Silbernes Band (German Edition)
wilde Flucht ins Stallgebäude begann. „Bloss weg, bevor das fürchterliche Raubtier angreift!“, war das Motto der buntgemischten Herde. Man hörte lautes Rumpeln und hektisches Hufgeklapper, als sie alle gleichzeitig versuchten, die Eingänge zum Stall zu passieren, dann den erschreckten Schrei einer weiblichen Person, die sich im Gebäude aufhielt. Heiðar stellte erleichtert fest, dass die junge Frau sich rechtzeitig retten konnte, allerdings schlug ihr Herz ziemlich schnell. Es knallte im Innern des Stallgebäudes, als wollten die Tiere das verschlossene Tor durchbrechen. „Was ist denn in die gefahren?“ Christian beobachtete reichlich irritiert die kopflose Panik. „Ich muss nachsehen, was da los ist“, entschuldigte er sich und eilte die Stufen nach unten. „Tut mir echt leid“, murmelte Rúna lautlos und drückte zerknirscht Heiðars Hand. Ihm blieb nur, sein Pokerface aufzusetzen und zu hoffen, dass sie so schnell wie möglich ins Haus gebeten wurden, damit die armen Pferde wieder zur Ruhe kamen. Die übrigen Tiere hatten den gefährlichen Isländer ebenfalls gewittert. Zwei Hunde stoben an einer Hintertür aus dem Haus, die Katzen zogen sich fauchend ins oberste Stockwerk des Gebäudes zurück und die Kaninchen verschwanden blitzschnell in ihren Löchern.
„Hallo Heiðar! Herzlich Willkommen!“ Susanne fasste nach seinen Schultern, zog ihn an sich und küsste ihn auf beide Wangen. Er musste den Atem anhalten. Es war immer etwas heikel, wenn Fremde ihm gleich so nahe kamen, Susanne roch zudem sehr angenehm. „Nur herein in die gute Stube! Christian ist gleich zurück.“ Sie streiften rasch ihre Schuhe ab und wurden ins Wohnzimmer des urigen Bauernhauses gebeten, wo sie sich an einen rechteckigen Holztisch setzten. Im Stall war Ruhe eingekehrt, die Schritte des Hofbesitzers näherten sich.
„Grüezi Heiðar.“ Christian trat an den Tisch und drückte herzlich seine Hand. „Was war denn los?“, erkundigte sich Susanne auf Schweizerdeutsch, während sie ihren Gästen duftenden Schümli-Kaffee und backfrische Gipfeli servierte. „Keine Ahnung. Lisa wurde beinahe überrannt, aber es ist zum Glück nichts passiert“, beruhigte Christian seine Frau, die etwas besorgt wirkte. Heiðar gab vor, kein Wort zu verstehen, blickte unbeteiligt drein und schnappte sich eines der leckeren Blätterteigteilchen. „Das war bestimmt ein frecher Troll, den unsere isländischen Gäste mitgebracht haben“, flachste Christian. Sie lachten alle, Rúna versuchte, nicht rot zu werden.
„Wo sind eigentlich Síða und Pierrot? Die Hunde sind doch sonst immer zur Stelle, wenn Besuch da ist?“, wunderte sich Susanne. „Vielleicht wollten sie Heiðar nicht belästigen, wo er doch eine Tierhaar-Allergie hat“, meinte Christian trocken. „Ja, das ist schade, wenn die Freundin eine begeisterte Reiterin ist“, bedauerte Susanne. Heiðar zuckte die Schultern. „Ich würde mir auch ohne die Allergie nichts aus Pferden machen. Nicht jeder Isländer schwingt sich gern in den Sattel. Ich glaube, Rúna ist manchmal ganz froh, wenn sie ins Stalldorf flüchten kann.“ Heiðar sprach ebenfalls sehr gut Deutsch, wenn auch mit bezauberndem Akzent, stellte Susanne fest. Und was für unglaublich schöne Augen er hatte. Vor diesem Mann musste man doch nicht fliehen!
Sie tranken gemütlich Kaffee und unterhielten sich angeregt über Island, über die Auswirkungen der Finanzkrise auf die Menschen, die derzeitige Entwicklung im Land und natürlich über Pferde.
Die Zeit verflog im Nu, und Rúna hatte den unschönen Zwischenfall schon fast vergessen. Heiðar hörte, wie Heu in die Futterkrippen verteilt wurde und wie sich die Pferde genüsslich darauf stürzten. Ein idealer Zeitpunkt, um einen Abflug zu machen. „Ich glaube, wir sollten langsam aufbrechen.“ Er tippte auf seine nicht vorhandene Armbanduhr und warf Rúna einen bedeutungsvollen Blick zu. „Vielen Dank für die tolle Führung und die Tipps zum Kappzaumtraining. Falls ihr mal wieder in Island seid, müsst ihr uns unbedingt besuchen!“, lud sie die beiden ein. Sie erhoben sich vom Tisch und gingen gemeinsam in den Flur. Heiðar hielt nochmals die Luft an, als er Susanne zum Abschied kurz in die Arme zog. „Macht’s gut und viel Spass in Luzern!“ Sie schlüpften in ihre Schuhe und hüpften hintereinander die steile Holztreppe hinab. Heiðar konnte deutlich hören und riechen, wie sich der Mann mit der dunklen Stute näherte. „Komm schnell!“ Er zog
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