Silbernes Band (German Edition)
Schliesslich bist du auch auf dem Bild.” Rúna kniff die Augen zusammen, um Fionn entdecken zu können. “Hier. Siehst du die kleine schwarze Figur am Fuss der Hekla? Das ist mein damals noch unbekannter Vater. Ich habe ihn immer auf diese Weise gezeichnet. Er war weit weg, und ich wusste nicht, wie er aussieht.” – “Wie alt warst du, als du das gemalt hast?” – “Sieben”, kam es wie aus einem Mund. Rúna staunte. Das Bild wirkte wie die Zeichnung eines Zwölfjährigen. “Ist das nicht aufgefallen, wenn du so gezeichnet hast?” Heiðar grinste. “In der Schule habe ich meinen Zeichenstil den übrigen Kindern angepasst. Solche Bilder habe ich bloss zu Hause gemalt.” – “Oh, du warst wohl ein schlaues Kerlchen.” – “Das bin ich immer noch, mein Schatz.”
Fionn ging zu der Bücherwand auf der rechten Seite des Raums und holte eine hellbraune Schuhschachtel aus einem der antiken Schränke. Er stellte sie auf den Schreibtisch und hob den Deckel ab. “Das habe ich ebenfalls mitgehen lassen.” Er hielt einen Frischhaltebeutel mit Zipp-Verschluss hoch, in dem eine dunkelbraune Locke lag. “Moment mal. Du hast mir eine Locke abgeschnitten?”, entrüstete sich Heiðar. “Selbstverständlich nicht. Es war mir nicht gestattet dich anzufassen, daran habe ich mich eisern gehalten. Die Locke fand ich im Mülleimer. Deine Mutter hat dir an jenem Tag die Haare geschnitten, es war der 18. Mai 1983.” Heiðar nickte. “Ja, ich erinnere mich. Mein Haar war schrecklich lang, und es war schon ziemlich warm draussen. Mit kurzem Haar war es hinterher viel angenehmer.” Er holte einen Zeitungsausschnitt aus der Schachtel. Der Sportteil des Morgenblattes. “Schau mal, Rúna. Erkennst du mich wieder? Damals war mein Haar auch ziemlich kurz.” In dem Artikel ging es um die Handball-Europameisterschaft 2002, als die isländische Mannschaft den sensationellen 4. Rang erreichte. Rúna grinste. Heiðar war auf beiden Fotos zu sehen. Einmal in der Mannschaftsaufstellung und einmal in Aktion, wie er mit sicherem Wurf ein Tor erzielte. “Wow. Jetzt muss ich wohl mächtig stolz sein? Dabei habe ich mir nie was aus Handball gemacht, ich fand das immer total langweilig, wenn Papa sich die Spiele angesehen hat.” Heiðar schüttelte mit gespielter Missbilligung den Kopf. “Hättest du damals bloss etwas Interesse gezeigt, dann hätte ich nicht so lange auf dich warten müssen.” Sie verdrehte die Augen. “Na hör mal! Damals war ich Sechzehn! Meine Eltern hätten niemals erlaubt, dass du mit mir ausgehst, schliesslich bist du acht Jahre älter. Ausserdem war ich als Teenager eine echte Zumutung. Schlimmer als Gæfa.” Heiðar warf ihr einen glühenden Blick zu. “Ich glaube nicht, dass mich das abgehalten hätte. Und deine Eltern hätte ich leicht in die Tasche gesteckt.” Für die freche Bemerkung gab es einen Tritt ans Schienbein.
Fionn packte seine Erinnerungsstücke wieder in den Bücherschrank. Er war überglücklich, dass er nun nicht länger auf geklaute Zeichnungen, Haar aus dem Mülleimer und Zeitungsberichte angewiesen war, um am Leben seines Sohnes teilhaben zu können. Rúna fand es unglaublich, wie er sich all die Jahre lang an Kristíns Anweisung halten konnte. Das lag wohl daran, dass Zeit für Unsterbliche eine ganz andere Bedeutung hatte.
Fionn führte sie weiter auf dem Rundgang durch die Wohnung. Auf dieser Seite der Halle gab es ausserdem ein Gästeklo und einen Wirtschaftsraum mit Waschmaschine, Trockner und Bügelbrett. Gegenüber vom Eingang führte eine dunkle Flügeltür ins Wohnzimmer. Zwei elegante Sofas und ein ausladender Sessel mit hellgrünen Stoffbezügen gruppierten sich um ein antikes Tischchen, darauf ein Strauss hellroter Rosen in einer bauchigen Kristallvase. Entlang der cremé-silber tapezierten Wände standen mehrere filigrane Tischchen und Schränkchen, zum Teil mit wertvollen Intarsien. Der obligate Kamin fehlte ebensowenig, davor zwei geblümte Sessel, um sich am Feuer zu wärmen. Eine topmoderne Home-Cinema-Anlage in einem eigens dafür angefertigten Möbel in Mahagoni-Optik ergänzte die Einrichtung und wies unmissverständlich darauf hin, in welcher Zeit man sich befand. Dafür gab es nirgends Teppiche auf dem frisch polierten Nussbaumparkett. Fionn schien nichts übrig zu haben für Fusswärmer und Schrittdämpfer. Zwischen Kamin und Sitzgruppe stand ein festlich geschmückter Weihnachtsbaum. Eine echte Blaufichte, die einen wunderbaren Harzgeruch
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