Silbernes Band (German Edition)
getötet hast?“ - „Nein. Durch den Konsum von Spenderblut habe ich mein Jagdverhalten zu Gunsten der Sterblichen geändert, aber ich kann nicht gänzlich darauf verzichten. Zu jagen liegt in meiner Natur, darüber darf ich mir keine Gedanken machen. Mitleid mit den Opfern brächte mich um den Verstand. Wir sind, was wir sind – das musst auch du akzeptieren, für dich selbst. Es bringt dich nicht weiter, wenn du das arme Pferd bedauerst. Du kannst dem Blutdurst und dem Jagdtrieb nicht entkommen, es ist ja keine Sucht, die du dir angeeignet hast, oder eine Krankheit, die man heilen kann, sondern eine Notwendigkeit. Es ist nicht deine Schuld, dass dein Vater ein Unsterblicher ist. Ich selbst hatte auch keine Wahl.“
Es folgte eine lange Pause, während Heiðar über die Worte seines Vaters nachdachte. Nüchtern betrachtet hatte er vermutlich Recht. Waren sie soviel anders als Raubtiere? Wenn er sich nur von seinen Instinkten leiten liesse, hätte er wohl schon viele Menschen getötet, dann wäre auch Rúna nicht mehr am Leben. Was für eine grauenhafte Vorstellung! Natürlich war Fionn in gewisser Weise ein recht zivilisierter Unsterblicher. Sein Konsum von Spenderblut war überaus fortschrittlich und rettete vielen Menschen das Leben. Doch diese abgeklärte Nüchternheit, diese Gefühlskälte, mit der Fionn von seinen Opfern sprach, schockierte ihn. Kein Wunder, dass Kristín nicht damit zurechtgekommen war. Konnte Rúna akzeptieren, dass er ein Monster war? Sie liebte Pferde. Er wollte nie mehr ein Pferd jagen und hoffte, dass er ihr niemals gestehen musste, wieviele Pferde er auf dem Gewissen hatte. Andererseits, spielte es eine Rolle, ob man ein Schaf, ein Pferd oder ein Rentier tötete? Hatten sie nicht alle dieselbe Daseinsberechtigung? Was war mit Menschen? Die Angehörigen der jungen Frau taten ihm leid. Sie würden nie erfahren, was mit ihr geschehen war, konnten sie nicht einmal begraben. Musste man akzeptieren, dass Auður zur falschen Zeit am falschen Ort war, als hätte sie einen tödlichen Unfall erlitten? Heiðar musste noch weiter darüber nachdenken.
Er schloss den Deckel der Metallbox und schob sie Fionn zu, der sie wieder in die Minibar zurücklegte. „Sag mir Bescheid, wenn du etwas brauchst.“ Heiðar nickte, blickte ihm dann direkt in die Augen und liess seine Stimme fest klingen: „Ich habe mich mit Rúna zum Essen verabredet.“ Er machte auf diese Weise klar, dass Fionn sich ihr nicht mehr nähern sollte. „Sehr schön! Erwägst du nun, deinen Anspruch zu erklären?“ Heiðar blitzte ihn scharf an: „Nein, das werde ich nicht tun. Ich erwarte von dir, dass du mir nicht mehr in die Quere kommst. Ich bin wie ein Mensch aufgewachsen, in einem fortschrittlichen Land. In Island bezeichnet man den Menschen, den man liebt, nicht als sein Eigentum.“ Fionn erwiderte nichts darauf, sein Blick liess aber keinen Zweifel daran, dass er anderer Meinung war. Heiðar seufzte. An alle Eigenheiten der unsterblichen Welt würde er sich vermutlich nie gewöhnen. Fionn zuliebe wollte er sich trotz allem damit auseinanderzusetzen.
Rendezvous
„Verflixt, wo ist der rosa Lippenstift!“ Rúna sauste ins Zimmer und kramte hektisch in der Schublade des Sekretärs. Der Gesuchte lag gut getarnt zwischen Bleistiften und Notizpapier. „Na endlich!“ Sie hetzte wieder ins Bad, stürzte vor den Spiegel und trug mit nervösen Fingern die Farbe auf. Bloss nichts verschmieren! Jetzt noch rasch die Haare gebürstet. Zum Glück hatte sie die gestern schon gewaschen. Es dauerte immer ewig, bis die dicken Locken trocken waren. Die Türklingel liess ihr Herz hüpfen. Sie hörte eilige Schritte, dann ein sonores Summen, als Snorri den Türöffner betätigte. „Meine Tasche!“ Also nochmal ins Zimmer hasten, um das kleine schwarze Teil zu holen. Die Wohnungstür wurde geöffnet. „Hæ, ich bin Snorri. Du musst Heiðar sein. Komm rein.“ – „Hallo Snorri. Freut mich, dich kennenzulernen.“ - „Rúna! Bist du soweit?“, hallte Snorris Stimme durch den Flur. Palli und Heiðar begrüssten sich ebenfalls. Ein letzter Blick in den Spiegel. Einmal tief durchatmen. Rúna trat in den Flur.
Heiðars Gesicht begann zu leuchten. Wie hübsch sie war! Das rosenholzfarbene Kleid umschmeichelte den schlanken Körper. Ihr Haar trug sie offen und das schöne Gesicht war leicht geschminkt. Kein Parfum. Wunderbar! Ob er sie zur Begrüssung küssen sollte?
Rúna ging mit zittrigen Knien auf ihn zu. Wie fremd er aussah,
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