Silbernes Band (German Edition)
Möglicherweise kam plötzlich ein bissiger Windstoss, vor dem er sie abschirmen musste. Dabei sollte man Rúna wohl besser vor ihm beschützen. Er brachte sie bis zur Haustür, beschwor sich, auf keinen Fall einen Schritt über die Türschwelle zu machen, um sie nach oben zu begleiten. Normalerweise wehrte er sich nicht, wenn eine Frau ihn ins Haus zerrte. Rúna schien das aber nicht vorzuhaben, sonst wäre sie wohl schon beim Küssen viel forscher vorgegangen.
Besser, er hielt es wie sein Vater und blickte ihr tief in die Augen: „Danke für den wunderschönen Abend. Ich hoffe, wir sehen uns bald wieder.“ – „Ja, das wäre schön.“ Noch ein Kuss? Nein, er streichelte bloss ihre linke Wange. Die kühlen Finger glitten tiefer und berührten ihre Kehle, dabei hielt er seine Augen auf sie gerichtet, die im Schein der schwachen Aussenbeleuchtung besonders geheimnisvoll wirkten. Ihr Blut pulsierte heftig unter der sanften Liebkosung. Es glühte und fröstelte zugleich, die zärtlichen Fingerspitzen schickten ein elektrisierendes Kribbeln durch ihren Körper. Das toppte den scheuen Kuss von vorhin in jedem Fall.
„Du wirst dich noch erkälten.“ Heiðar zog seine Hand zurück und stoppte das kaltglühende Kribbeln. „Darf ich dich morgen anrufen?“, bat er mit rauher Stimme. „Ja, klar“, erwiderte sie heiser. „Schlaf gut, Rúna“, flüsterte er und strich noch einmal zärtlich über ihre Wange, bevor er sich rasch umdrehte und sich zwang, zum Wagen zu gehen.
Sie blickte ihm nach und winkte, als er sich nochmals nach ihr umwandte, bevor er einstieg und eilig davonfuhr. Rúna schloss seufzend die Haustür auf und ging nach oben. Snorri und Palli waren zum Glück gerade beschäftigt, somit blieb sie von neugierigen Fragen verschont. Die intensiven Gefühle, die sie bei seiner Berührung ergriffen hatten, hallten noch immer nach. Sie war kurz davor gewesen, ihn einfach mit nach oben zu nehmen. Auf keinen Fall wollte sie jetzt schon mit ihm schlafen. Sie sollte es langsam angehen lassen und Heiðar erst besser kennenlernen.
Irgendwann musste sie eingeschlafen sein. Kurz vor Zehn, am nächsten Morgen, schlug sie die Augen wieder auf, kuschelte sich noch eine Weile schlaftrunken in ihre Decke und dachte an den vergangenen Abend. Wie schön es war, mit Heiðar zusammen zu sein! Sie mochte es, sich mit ihm zu unterhalten, seine zurückhaltende, höfliche Art, diese wunderschönen Augen, die ihr unergründliche Blicke schenkten und sie völlig aus der Bahn warfen, seine sanften Berührungen und der zärtliche Kuss...
Noch ein wohliger Schauer, dann gab sie sich einen Schubs und ging ins Bad. Der Spiegel zeigte strahlende, frisch verliebte Augen und glühende Wangen. Sie hob das Kinn, drehte den Kopf leicht zur Seite und streifte das Haar zurück, um ihre Kehle zu betrachten. Sie fasste mit der Hand an die Stelle, wo er sie gestreichelt hatte, fühlte das regelmässige Klopfen. Warum er sie wohl gerade dort berührt hatte? Das hatte bisher noch kein Mann so gezielt getan. Männer lenkten ihre Hände meist wie zufällig in Richtung Busen oder Po einer Frau. Sie war gespannt, wie die Sache sich entwickelte.
Schluss jetzt, sie wollte doch zum Reiten! Also Reitsachen anziehen, Kaffee und Müsli tanken und dann nichts wie los ins Stalldorf. Hnota war heute ziemlich aufgekratzt. Sie zuckte vor ihr zurück und sog schnorchelnd die Luft ein, als Rúna die Stute aufhalftern wollte. „Komm schon kleine Maus, was ist denn los mit dir?“ Normalerweise liess sich Hnota bereitwillig einfangen. Vielleicht lag es am heftigen Wind.
Heute stand Dressurarbeit in der Reithalle auf dem Programm. Tagsüber war die Halle selten überfüllt, ein Vorteil, wenn man konzentriert üben wollte. Flink putzte und sattelte sie die Stute und ritt im flotten Tölt zur Reithalle hinüber. Kaum hatte sie das Tor zur Reitbahn geöffnet, bereute sie ihre Entscheidung. Ein schwarzer Hengst donnerte durch den Sand. Im Sattel Gunnar, selbst ernannter Traummann aller weiblichen Mitglieder des Reitvereins. Er hielt sich für absolut unwiderstehlich und liess keine Gelegenheit aus, seine Unwiderstehlichkeit an die Frau zu bringen. Rein optisch war er gar nicht mal so übel: Er hatte dickes, braunes Haar, das ihm neckisch in die Stirn fiel, ausserdem schöne blaue Augen, und er war ziemlich durchtrainiert. Aber wie er diese Vorzüge anpries - einfach ätzend. Seine Anmachsprüche troffen vor Zweideutigkeiten, ständig versuchte er die Frauen
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