Silver Moon
kräftige Gestalt nur aus den Augenwinkeln, stand reflexartig auf und stieß mir den Kopf an dem niedrigen Dach. Ein ›Aua‹ verkniff ich mir, stattdessen kroch ich rücklings aus dem Stall und rieb die kleine Beule, die an meinem Kopf erblühte.
»Was treibst du da drin? WAS?«, schrie er zornig und mir rutschte das Herz in die Hose. Meine Gedanken überschlugen sich. Weshalb war er schon zurück? War es bereits so spät oder Vater zu früh?
»ICH HABE DICH WAS GEFRAGT!«
»Ja, oh ja, Vater … Ich reinige den Hühnerstall, wie du verlangt hast!« Ich wusste, dass ich damit nicht durchkommen würde.
»Das ist nicht deine Aufgabe! Der Schmierfink sollte das tun. WO STECKT DER KERL?« Ich fasste mir an die Stirn und schüttelte meinen Kopf. Was sollte ich mir auf die Schnelle nur einfallen lassen? Wenn ich die Wahrheit sagte, würde Nino nie wieder ein Bild malen dürfen. Ich saß gewaltig in der Klemme und wusste nicht weiter.
»Wo ist der kleine Bastard? WO?«, schrie Vater so laut, dass selbst die Hühner im angrenzenden Gehege wild zu flattern begannen und ich mir am liebsten die Ohren zugehalten hätte.
»Er … er ist … im … im Wald. Nino sucht … Holz. Wir müssen unsere Brennholzbestände aufstocken und er sucht Brennholz, ja genau, Brennholz!«, versuchte ich zwanghaft eine Ausrede zu erfinden. »Nino im Wald? Was Dümmeres ist dir nicht eingefallen? Der geht doch nicht freiwillig in den Wald! Du kennst dich doch bestens mit Holzholen aus, warst die halbe Woche im Wald, um Bretter zu suchen. Weshalb steckt dein Arsch im Hühnerstall, während der Bastard verschwunden ist?«
»Wir, wir haben getauscht, weil …«
»Halt’s Maul! Wo steckt der andere Taugenichts? Der saß doch heute Morgen mit am Tisch. Scheint die Tracht Prügel gut vertragen zu haben!«
Himmel … Furchterfüllt griff ich an die kleine Flöte, die um meinen Hals hing. Wenn ich Hilfe bräuchte, wäre er für mich da – wer immer er auch war –, hatte auf dem Zettel gestanden. Zu gerne hätte ich in die Flöte gepustet, aber hier musste ich alleine durch; keiner konnte mir helfen. »Kai ist in seinem Zimmer. Er hat Rippenbrüche und braucht dringend Bettruhe! Ab Montag muss er wieder zur Schule und wenn die mitbekommen, dass es ihm schlecht geht, schicken sie ihn zum Arzt, da kannst selbst du nichts daran ändern. Und wenn ein Arzt seine Verletzungen bemerkt, tja, dann …«, unternahm ich einen verzweifelten Versuch, um wenigstens Kai zu schützen. Vater winkte ab, anscheinend waren meine Worte bei ihm angekommen. Er wollte auf gar keinen Fall, dass die Misshandlungen, die er uns zufügte, öffentlich wurden. Zornig trampelte er ins Haus und mir drehte sich der Magen um. Hoffentlich ging er nicht zu Kai, hoffentlich!
Ich konnte hier unmöglich den Hühnerstall weiter säubern, ohne Gewissheit zu haben, was drinnen vor sich ging. Ich stellte den Besen beiseite und folgte Vater ins Haus. Alles war ruhig. Ich hörte ein tiefes Räuspern und bemerkte, dass er in der Stube war. Voller Erleichterung schlich ich leise die Treppen hinauf, zu Kai. Er lag in seinem Bett, die Arme hatte er hinter seinem Kopf verschränkt, und starrte zur Decke. »Der Alte ist zurück und Nino ist noch nicht da«, waren seine erdrückenden Worte, die genauso niederschmetternd klangen, wie sie gemeint waren. Ich schloss die Tür hinter mir und trat zu ihm ans Bett.
»Ja! Ich habe gesagt, dass Nino im Wald ist, aber er glaubt mir nicht.« Kai setzte sich auf. »Und wieder wird heute jemand verletzt werden. Ich wünschte so sehr, es wäre der Alte, der die Schläge bekommt. Er hätte sie verdient!«, sagte Kai. In dem Moment ertönte ein lauter Schrei, der mich erschrocken aufhören ließ. Weitere Schreie folgten, hohe Schreie, Hilfeschreie …
Sie schallten durchs ganze Haus. Es war Ninos Stimme und mein Herz versetzte mir einen gewaltigen Stich. Nino schrie so laut. Ich nahm fast den Türrahmen mit, als ich aus dem Zimmer stürmte. Ich stürzte die Treppen hinab und sah schockiert mit an, wie Vater Nino an den Haaren von der Küche über den Flur nach draußen schleifte.
Sein kleiner Körper wurde unsanft über den harten Boden gezerrt. Nino presste seine Hände an den Haaransatz, um den Schmerz zu drosseln, den Vater verursachte, indem er mit seiner groben Hand gnadenlos das gesamte Gewicht meines Bruders nur an dessen Haaren hinter sich her zerrte. Vater öffnete die Haustür und riss Nino über die fünf Steinstufen mit in den Vorgarten. Er schlug
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