Sind wir nun gluecklich
Lied »Derselbe Mondschein«, wo es heißt: »Derselbe Mondschein, derselbe Glanz auf dem Xindian-Fluss«?
Die Antwort war: »Genau.«
Hellwach richtete sich jetzt mein Blick aus dem Fenster. Tatsächlich war der reale Xindian-Fluss nicht wirklich der Rede wert. Als ich ihn aber zum ersten Mal mit eigenen Augen erblickte, war das für mich der Moment, in dem ich begriff, dass Taiwan mir gar nicht so fremd war, denn ich hatte das Land dank der Texte seiner Lieder in meiner Fantasie schon unzählige Male bereist, ich hatte mir das nur noch nicht so richtig vor Augen geführt.
Während wir in dem alten Dorf Danshui filmten, ging mir – egal, welche Bilder und welches Thema wir gerade bearbeiteten – die ganze Zeit die Melodie von »Das kleine Dorf Danshui« wie eine selbstverständliche Begleitmusik durch den Kopf.
Immer wenn ich in Taipei die Zhongxiao-Straße entlangging, kam mir, je nach Stimmung, eines der vielen Lieder in den Sinn, in denen sie vorkommt, manchmal die Zeilen »Inmitten der Menge schlendere ich die Zhongxiao-Straße entlang« aus Tong Anges »Das Schicksal kann warten«. Oder es war »Die Östliche Zhongxiao-Straße führt nach überall« der Popgruppe »Power Station«. In diesen Momenten füllte sich eine ganz normale Straße für mich mit Gefühl, mit Traurigkeit.
Als ich mit Bo Yang über seine Zeit der Gefangenschaft auf der Insel Lüdao sprach, dachte ich natürlich sofort an das Lied »Lüdao-Serenade«. Diese wundervolle Melodie wollte zwar nicht recht zu den Schrecken eines Gefängnisaufenthalts passen, aber zuweilen kann eine Melodie auf angenehme Weise trügerisch sein.
Das Aufnahmestudio lag in Ximenting, und auch hierzu stellte sich wie von selbst die passende Melodie in meinem Kopf ein, nämlich »72 Metamorphosen« von Luo Dayou: »Ich spaziere über die Fußgängerbrücke von Ximenting, so viele elegante Leute auf den Trottoirs …« Wenn ich mich dort aufmerksam umsah, meinte ich die Ursache für Luo Dayous Wut in diesem Lied zu verstehen, nichts hat sich verändert. Vielleicht ist das bei ihm der Einfluss seiner Heimatstadt Peking?
Und so kommt es, dass man sich ständig fragt: Wo liegt das kleine Dorf Lugang, das so oft besungen wird? Warum ist Taipei nicht meine Heimat? Da gab es natürlich auch gewisse Enttäuschungen, zum Beispiel beim Besuch des Bergs Alishan, wo ich nirgends die besungenen »Mädchen vom Alishan« sah. Die Zeiten haben sich geändert, und die Mädchen vom Alishan gibt es vielleicht nur noch im Lied.
Der Höhepunkt der Erinnerung an Lieder aus Taiwan war zweifellos der Besuch am Grab von Teresa Teng, an dem die Musik niemals verklingt. Juli und Taiwan: Das bedeutete unglaubliche Hitze. Schweißgebadet suchte jedermann einen schattigen Ort, und nicht wenige machte das Klima regelrecht depressiv. Ein paar Stunden am Grab von Teresa Teng aber ließen die Sommerhitze vergessen. Das auf einem Hügel liegende Grab der gefeierten Sängerin gehört zu den beliebtesten Pilgerstätten Taiwans. Das Management des Friedhofs hat ihr Grab mit gutem kommerziellem Gespür an einem prominenten Ort anlegen lassen. Seither ist das Grab das Aushängeschild des Friedhofs, und Teresa, die schon zu Lebzeiten viel Wirbel um ihre Person erfuhr, hat nun leider keine Gelegenheit mehr, darauf Einfluss zu nehmen.
Xiufang und ich stiegen mit Blumen in der Hand zum Grab hinauf. Erst nachdem wir die Blumen niedergelegt und uns von der Statue der Sängerin abgewandt hatten, wurde uns die Magie dieses Orts bewusst: Das weite Meer tat sich vor unseren Augen auf, endlos und erhaben. Unverstellt ging unser Blick über den Ozean in Richtung des chinesischen Festlands, Teresa Tengs alter Heimat, ein Ort, an dem sie ihr ganzes Leben lang nie gewesen ist.
Erst in diesem Moment bemerkte ich die Musik. Die Grabstätte wird tatsächlich ununterbrochen mit einer Best-of-Auswahl von Teresa Tengs Liedern beschallt, darunter auch »One day my prince will come«, ein Lied, das uns einmal mit seinem Charme verzauberte und nun, an diesem Tag, einfach nur sentimental machte. Hier, an diesem magischen Ort, klang es wie eine Prophezeiung.
»Die schönen Blumen blühen nicht mehr, die schönen Bilder sind vergangen …« Das war, als sänge sie für sich selbst. Nun war alles anders. Die Sängerin hatte in ihren späten Jahren an Kraft verloren, doch nach ihrem Tod wurde sie zum Mythos. Für den Zuhörer hatten ihre Lieder an Intensität gewonnen.
Als ihre sterblichen Überreste nach Taiwan
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