Sintflut (German Edition)
ermittlungstechnische Zwickmühle. Sie kommt bei der Polizeiarbeit viel häufiger vor, als das im Fernsehen gezeigt wird. Chronischer Personalmangel zwingt einen dann dazu, sich für eine Strategie zu entscheiden, oft genug für die falsche. Akan und ich waren also in einer vergleichsweise satten Lage: Er blieb am Lager zurück und ich machte mich allein auf den Rückweg.
Es ist eigenartig, wie eine Herausforderung den Körper verändert. Ich zum Beispiel verliere jedes Hungergefühl, bin zum Zerreißen angespannt und oft kurz vor der Panik, doch sie bricht nicht aus. Es ist ein Gefühl, als ob eine fremde Macht einen von hinten anstößt und solange vorantreibt, bis man tot umfällt. Die Sonne würde bald untergehen, eine Taschenlampe hatte ich nicht. Also setzte ich rasch einen Fuß vor den anderen. Den Pfad, auf dem wir hierher gekommen waren, fand ich ohne größere Probleme wieder, auch auf der anderen Seite des Passes ging es überraschend gut. Kritisch wurde es erst, als ich die Waldgrenze erreichte. Bald konnte ich den Weg nicht mehr erkennen. Mir fiel ein, wie ich mich auf einer Tour durch Marokko mal in der Medina von Fes verlaufen hatte. In den engen Gassen hatte ich die Orientierung schnell verloren. Trotzdem fand ich mich zurecht, weil ich vorher gelesen hatte, dass die ganze Altstadt an einem Hang liegt. Will man aus ihr heraus, braucht man einfach nur steil bergauf zu gehen. Irgendwann hören die Gassen auf und man ist frei. Hier war es genau umgedreht: Ich brauchte immer nur bergab zu gehen und kam automatisch nach Pluton zurück.
Je dunkler es wurde, desto langsamer ging ich. Auf dem nadelbedeckten Waldboden kam ich ganz gut voran, aber die Dunkelheit quälte mich. Ich stolperte dauernd, fiel immer wieder hin, zerkratzte mir Hände und Gesicht. Irgendwann ruhte ich mich einen Moment aus. Angestrengt versuchte ich, etwas zu sehen, doch vergeblich. Der Mond war noch nicht aufgegangen. Als ich weitergehen wollte, sah ich ein ganzes Stück unterhalb etwas rot aufglimmen. Zuerst war ich froh und wollte laut um Hilfe rufen, doch dann zögerte ich. Jemand stand ausgerechnet heute in diesem Wald und rauchte eine Zigarette. Das konnte alles Mögliche bedeuten. Besser, ich war vorsichtig. Bald kam eine zweite Zigarette dazu. Die Lichtpunkte glühten in der Dunkelheit wie die Augen eines Höllenhundes. Nach ein paar Minuten gingen sie aus, dafür blinkte jetzt ein Lichtsignal auf. An, aus, an, aus. Ich drehte mich um und von oben kam eine Antwort. Dann sah ich den Strahl einer Taschenlampe über den Boden huschen und hörte Äste knacken. Wer immer da ging, bewegte sich langsam auf das untere Licht zu.
Als sich die beiden Lichter erreicht hatten, wurde es wieder still. So leise wie möglich ging ich weiter. Nach einer quälend langen Zeit sah ich endlich die schwache Silhouette eines Hauses, dann noch eine und noch eine. Bald war ich auf einem Weg, der auf die Straße mündete, die vor unserem Haus vorbeiführte. Ich ging bis zu dem großen Holztor, doch es war verschlossen. Ich wollte keinen Lärm machen und lief weiter, bis ich eine Möglichkeit fand, hinter das Haus zu kommen. Schließlich stand ich vor der Hintertür, durch die wir heute Morgen in den Wald getreten waren. Sie ließ sich geräuschlos öffnen. Als ich endlich im Hof stand, atmete ich auf. Das Haus war bis auf ein kleines Licht in der Küche dunkel. Dort saßen Paula und Leo, die schon seit Stunden auf uns warteten.
Ich berichtete, wo Akan jetzt war und was wir dort gefunden hatten. Als ich von den beiden nächtlichen Rauchern und den Lichtsignalen erzählte, war Leo außer sich und Paula grau vor Sorge. Leo ging los, um Alarm zu schlagen. Ich blieb bei Paula, redete ihr gut zu und versuchte, zuversichtlich zu sein. Dabei war ich alles andere als das. Nach zwei Stunden kam Leo zurück und gab Paula grünes Licht für ihren Plan.
»Sie wollen es also riskieren«, stellte ich fest, als Leo wieder gegangen war.
Paula antwortete nicht sofort, und ich schaute sie fragend an.
»Ich habe immer gehofft, ich würde nie in so eine Lage kommen«, erklärte sie tonlos. »Aber ich habe natürlich trotzdem darüber nachgedacht, was ich im Notfall machen würde. Mein Kollege Theo, der schon viele Ausgrabungen gemacht hat, vor allem mit Goppel zusammen, aber auch solo, sah das immer ganz locker. Er ist fast 70 und gehört zu einer Generation, die irgendwie noch anders tickt. Schliemanns Erben, wenn du weißt, was ich meine. Nimm dir, was du kriegen
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