Skandal um Lady Amelie
doch die Komplimente der Gäste interessierten Amelie nicht. Für sie zählte nur, dass der, dessen Bewunderung ihr allein wichtig war, sie abermals vor geringschätzigen Bemerkungen, wenn sie auch nur aus Unwissen erfolgt waren, behütet hatte. Wie auf dem Ball empfand sie seine Gegenwart wie einen warmen, beschützenden Schild, und während sie sich mit ihren Tischherren unterhielt, beobachtete sie ihn, wie er sein schönes Haupt Hannah zuneigte und ihrem Gespräch seine gesamte Aufmerksamkeit schenkte. Kein Wunder, dass Hannah ihn liebte. Wie anders er sich hier gibt, dachte Amelie. So gar nicht der hartgesottene Zyniker, als den ich ihn in London erlebt habe. Wie passten diese Gegensätze zusammen?
Diese Frage beantwortete sich rein zufällig nach dem üppigen Mahl, als sie sich zu Lord Seton gesellte, der Caterina der hingebungsvollen Aufmerksamkeit Tamworths überlassen hatte. Als ob sie sich verabredet hätten, bot er Amelie den Arm und führte sie auf die weite Terrasse, von der aus man den Fluss überblickte. Sie hockten sich, von anderen Gästen ungestört, auf eine niedrige Fensterbank und sahen dem Sonnenuntergang zu.
„Bisher hatten wir kaum Gelegenheit, uns zu unterhalten“, sagte Amelie, ihre Stola aus Chantilly-Spitze über ihre Schultern drapierend. „Können wir wohl Freunde sein, oder hat mein früherer Widerstand Sie abgeschreckt? Worauf ich natürlich zu dem Zeitpunkt abzielte.“ Sie sah sehr wohl, wie Caterina ihr Herz an diesen jungen Mann verlieren konnte, und auch, warum ihre Nichte seinem weltgewandten Geschmack nicht genügte.
Sein Lächeln allerdings war jungenhaft genug. „Unsere Familie ist berühmt dafür, sich nicht so schnell abschrecken zu lassen. Ich wollte schon längst mit Ihnen reden.“
„Weil Ihr Bruder mich um meine Hand gebeten hat? Sie billigen das nicht, fürchte ich.“
„Dazu besteht kein Grund, Mylady. Nun, zugegeben, es kam sehr plötzlich, doch ich billige Nicks Wahl. Ich beneide ihn und wünsche Ihnen Glück.“
„Ich hörte aber doch vorhin, wie Sie zu Colonel Tate ‚leider‘ sagten …“
„Himmel, zu dem alten Tate? Mylady, ‚leider‘, weil Sie nicht mit mir, sondern mit Nick verlobt sind. Aber in meiner momentanen Position kann ich sowieso noch nicht an feste Bindungen denken, sonst …“ Er seufzte und wandte den Blick ab.
Um Caterinas willen ging Amelie nicht näher darauf ein. „Nun, dann bin ich froh, dass wir Ihren Segen haben. Ich sähe gern, dass wir Freunde sind, Sir, obwohl …“, sie sah sich nach einer entfernten Gruppe um, wo eine laute, grobe Stimme alle anderen Sprecher übertönte, „… ich das nicht von allen Anwesenden behaupten kann. Oh, Himmel, er ist doch nicht etwa Ihr spezieller Freund?“
Lord Seton Lächeln sprach Bände. „Der alte Colonel Tate? Der glaubt immer noch, in der Armee zu sein! Wir kennen ihn seit unserer Kindheit und nehmen seine albernen Sprüche nicht ernst. Wir haben ihn immer nachgeahmt … machen wir heute noch manchmal.“ Er grinste. „Sie sollten ihn hören, wenn er sein Lieblingsthema verfolgt.“ Er setzte, als hätte er es ewig schon geübt, die nörgelnde Miene Tates auf, schob seine hübschen Lippen kaulquappengleich nach vorn und sagte in quengelndem, leicht keifendem Tonfall: „Diese Unterröcke gehören eingelocht! Das Arbeitshaus ist viel zu gut für diese Huren … Vagabunden! Tagediebe! Wer denen hilft, muss wirr im Kopfe sein! Dummköpfe! Alberne Samariter! Nicht ganz richtig im Oberstübchen.“ Von Lachen übermannt, brach er die Vorstellung ab, schaute Amelie jedoch besorgt an und atmete auf, als er ihre seltsam erleichterte Miene sah.
Daher stammten also die groben, menschenverachtenden Äußerungen, die sie in London für bare Münze genommen hatte.
„Dem würden wir niemals das Arbeitshaus zeigen“, sagte Lord Seton, immer noch schmunzelnd. „Meine Mutter streitet sich wegen dieses Themas häufig mit ihm aufs Heftigste herum. Aber er kann sie nicht kleinkriegen. ‚Werden schon sehen, welchen Ärger dieses Pack macht!‘“, imitierte er ihn erneut. „Sie sagt ihm nur, er soll zum Kuckuck gehen.“
„Ihre Mutter ist sehr energisch?“
„Oh, sie ist ein Original.“
Amelie hoffte, dass er sich ausführlicher äußern würde, doch in diesem Moment kam Adorna und bat: „Seton, sei ein Schatz und rette Hannah vor den langweiligen Horners. Die Arme ist schon ganz verzweifelt. Außerdem bin ich jetzt an der Reihe, mit Amelie zu sprechen.“
Nachdem er gegangen war,
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