Skandalöse Küsse - Scandal Becomes Her
ich habe nie sein Gesicht gesehen.«
»Sie begreifen schon, Lady Wyndham, dass Sie sich in großer Gefahr befinden, nicht wahr?«, erkundigte sich Marcus langsam. »Sollte diese Bestie erfahren, dass Sie ihm durch Ihre Albträume zusehen, wird er vor nichts Halt machen, um Sie zum Schweigen zu bringen … Sie könnten selbst in diesem schrecklichen Kerker landen.«
»Das wird niemals geschehen«, erklärte Julian mit ruhiger Entschlossenheit. »Ich werde sie vor allen Gefahren beschützen.« Er blickte Marcus an. »Wir werden sie beschützen.«
Marcus nickte, diesmal aber war kein Anflug seines sonst so bereitwilligen Lächelns zu sehen. Er holte tief Luft. »Und
der beste Weg, das zu erreichen, ist, diese verdammten Kerker zu finden und den Wahnsinnigen, der in ihnen haust.«
»Stimmt, aber bis das Wetter sich bessert, können wir nichts unternehmen«, sagte Julian.
Ein nachdenklicher Ausdruck lag in Marcus’ Blick, als er Nell betrachtete. »Diese Albträume - sind Sie sicher, dass Sie den Schauplatz wiedererkennen, wenn wir ihn tatsächlich finden sollten?«
Es war offensichtlich für beide, Nell und Julian, dass, obwohl er sich ernsthaft Mühe gab, an Nells Albträume und das, was sie enthüllten, zu glauben, Marcus nicht restlos überzeugt war.
»Sie wird sie wiedererkennen«, antwortete Julian mit flacher Stimme.
Mehrere Stunden später versuchten Julian und Marcus gerade, sich mit einem Billardspiel abzulenken, als Dibble mit der Nachricht kam, Dr. Coleman sei da und bitte um eine Unterredung. Die beiden Männer wechselten einen Blick und legten gleichzeitig ihre Queues weg, dann verließen sie mit ausholenden Schritten den Raum. Julian rief Dibble noch über die Schulter zu: »Etwas von Ihrem Rumpunsch, bitte. Wir werden ihn brauchen.«
Dibble hatte Dr. Coleman in Julians Arbeitszimmer geführt, wo er stand und ins Feuer schaute. Bei Marcus’ und Julians Eintreten drehte er sich um und sah sie an. Man begrüßte sich, und Julians Angebot eines Kruges Rumpunsch wurde freudig angenommen. Als Dibble das dampfende Getränk brachte und servierte, war eine höfliche Unterhaltung im Gange.
Nachdem der Butler gegangen war, sagte Julian: »Und jetzt berichten Sie bitte, was Sie entdeckt haben.«
»In all den Jahren, die ich schon als Arzt arbeite, habe ich nie so etwas gesehen«, erwiderte Dr. Coleman sichtlich erschüttert. »Es ist fast, als hätte ein wildes Tier sie angefallen, versucht, sie in Stücke zu reißen.«
»Es war eine Bestie«, pflichtete Julian ihm bei. »Eine menschliche Bestie mit einem Herzen des Bösen.«
Dr. Coleman nickte. »Ja, das stimmt. Aber ich war mir nicht sicher, was die Todesursache anging, bis ich den Leichnam untersucht hatte - da erst wurde zweifelsfrei klar, dass ihre entsetzlichen Wunden nicht von einem Tier stammten, sondern von menschlichen Händen.«
»Darüber lässt sich streiten«, bemerkte Marcus halblaut.
Dr. Coleman verzog das Gesicht. »Ja, allerdings.« Er nahm einen weiteren Schluck von dem Punsch, als müsse er sich stärken, um weiterzusprechen. »Ihre Züge waren für mich zunächst unkenntlich«, fuhr er fort, »aber nachdem ich das Blut und die Erde abgewaschen hatte, fiel mir auf, dass ich sie kannte. Ihr Name ist … äh, war Ann Barnes, und sie arbeitet … arbeitete in einem kleinen Gasthaus unweit der Küste, vielleicht zehn Meilen nördlich von hier. Letztes Jahr habe ich sie behandelt, als die Windpocken umgingen.« Er seufzte. »Das arme, arme Kind! Sie war erst siebzehn. So eine Tragödie! Eine Verschwendung. Umso mehr, da ich entdeckt habe, dass sie schwanger war.« Auf Julians scharfen Blick hin, fügte er hinzu: »Ich habe die Reste des Fötus’ gefunden. Von dem Entwicklungsstand her würde ich sagen, dass sie nicht weiter als im vierten Monat war.«
Man kam überein, dass Dr. Coleman Ann Barnes’ Familie von ihrem Tod verständigen sollte. Wegen der Beerdigung hatten sie noch einiges zu besprechen, weil man verhindern wollte, dass ihre Familie den verstümmelten Leichnam zu sehen bekam, sowohl um ihren Verwandten den Anblick zu
ersparen, aber auch, um den Mord zu vertuschen. Julian verlangte, dass der Arzt sich um alles kümmerte.
»Ich möchte auf keinen Fall, dass ihre Eltern sehen, was die Bestie mit ihr angestellt hat, und Panik unter den anderen Dorfbewohnern gilt es ebenso zu vermeiden«, erklärte Julian. »Daher denke ich, es wäre am besten, wenn ihr Leichnam ihnen in einem verschlossenen Sarg gebracht würde.
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