So fühlt sich Leben an (German Edition)
frage, ob er für dich eine halbe Stunde länger bleibt, wird er nicht Nein sagen.«
Zwei Tage später habe ich mich mit meinem Zip-Laufwerk diesem Drummer vorgestellt und ihn um eine harte Basedrum gebeten. Er hat sie gespielt, ich habe sie abgespeichert, und so ging’s weiter– Snaredrum, Rimshot, Tom. Schließlich bin ich mit meiner Ausbeute zurück ins Studio, habe alles zurechtgeschnitten und besaß in kürzester Zeit meine eigene Drum-Library, was absolut grandios war.
Heute verstehe ich meine Zeit im Hansa als meine eigentliche Lehrzeit. Sven Meisel war mein Chef, der mich mit all seinen Kräften unterstützte, Alex Wende mein Lehrmeister, der mich nie im Stich ließ, Hennig, der Toningenieur im Studio, der Geselle, der mich geduldig in alle technischen Geheimnisse einweihte, und das Hansa selbst nicht nur die beste Schule der Welt, sondern gleichzeitig eine große, kunterbunte Ersatzfamilie, in der mir jeder Einzelne ans Herz gewachsen war. Drei Jahre später hatte ich mich im Hip-Hop zum Allrounder entwickelt, ohne je den Eindruck gehabt zu haben, in einer Ausbildung zu stecken, einfach durch Zugucken und Mitmachen und Spaßdranhaben, wie bei Opa Ludwig seinerzeit. Ich tanzte auf allen Hip-Hop-Hochzeiten gleichzeitig, und ich tanzte auf allen gleich gut. Ich konnte komponieren, ich konnte produzieren, ich konnte Texte schreiben, ich konnte rappen, ich konnte im Studio1 sogar das konkurrenzlos traumhafte SSL -Oxford-Mischpult bedienen– und war, mal wieder, stolz wie Bolle.
Danke für alles, Sven.
17 | Leidenschaft
1998 gab es mich in dreifacher Ausführung. Als Live-Rapper beiFamily Affair. Als Analphabeten in Kombination mit Danny. Und als Solo-Rapper Joe Rilla. Joe Rilla kam Mitte des Jahres dazu, nach einer Baileys-Sitzung mit Waffel.
Wir saßen wie früher zusammen, suchten nach Worten für unser turbulentes Leben und stießen auf Bilder: Berlin als Dschungel, Großstadtdschungel, und wir als Dschungelbewohner. Als Dschungeltiere. Wie Schimpanse. Wie Gorilla. Woraus wenige Augenblicke später Jim Panse und Joe Rilla wurden. Jim Panse war er, Joe Rilla ich. Joe Rilla gefiel mir, und nach der Pleite mit dem Family-Affair-Album stieg ich ganz auf Joe Rilla um. Joe Rilla, der Rapper aus Marzahn, die Speerspitze des Ost-Raps, der knallharte Typ, der dir sagt, wie’s draußen wirklich aussieht, der unbestechliche Chronist seiner kaputten Umgebung. Wenn einer über das raue Leben und krumme Geschäfte, über betrügerische Kumpels und Hooligans Bescheid weiß, dann Joe Rilla. Wenn einer dir Geschichten aus der Platte plus Akaziengrund erzählen kann, dann Joe Rilla. Wenn einer… aber so weit sind wir noch nicht.
Nach dem Umzug ins Hansa nahm meine Hip-Hop-Leidenschaft neue Formen an. Zwölf bis vierzehn Stunden täglich waren normal, zwanzig Stunden keine Seltenheit, und das Gespräch mit meinem Vater über Sterne und Begeisterung und grüne Zweige, die für ihn nicht ohne Weiteres erkennbar seien, muss in dieser Zeit stattgefunden haben. Wahrscheinlich irritierte ihn darüber hinaus, was meine Begeisterung entfachte, denn weder er noch meine Mutter waren musikaffin. Allerdings hörte sich mein Kuje ganz gern Ost-Gruppen wie Karat, Puhdys und City an, und ich erinnere mich gut, dass er mir eines Tages im Murtzaner Ring den » Schwanenkönig« von Karat vorspielte. » Hör mal«, sagte er, » tolle Musik«– und dann fand ich Text und Melodie auch wirklich ergreifend: » Wenn ein Schwan singt, schweigen die Tiere. Wenn ein Schwan singt, lauschen die Tiere. Und sie raunen sich leise zu: Es ist ein Schwanenkönig, der in Liebe stirbt…« Na gut.
Von Graffiti zum Rap, das war für ihn jedenfalls kein großer Fortschritt, aber ich kniete mich rein. Oder besser: Ich tobte mich aus. Anfangs zusammen mit Danny.
Wie die Irren haben wir nach Sounds gesucht und rumexperimentiert und an dem Analphabeten-Album 1deutige 2deutigkeiten gearbeitet, mit Feuereifer, monatelang, was Sven wiederum so beeindruckend fand, dass er uns seine SSL -Oxford-Konsole im Studio1 für die Mischung anbot, und jetzt muss ich das Herzstück des Hansa doch mal beschreiben: vier Meter lang und über die ganze Fläche verteilt eine derartige Menge von Knöpfen, dass einem schwindelig wurde, mit einem Wort: beinahe außerirdisch, und da durften wir jetzt ran. Ich fühlte mich wie ein Champ in der Arena vor dem letzten, entscheidenden Fight. Vier Wochen später waren wir so weit, und kaum war das Album erschienen, gab es ein ziemliches
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