So sinnlich wie dein Kuss
also.
Als der Fahrer die Koffer ausgeladen hatte, ging er, um einen Gepäckwagen zu holen. Anna wartete seine Rückkehr nicht ab, sondern machte sich mit ihrem Trolley auf den Weg zum Einchecken.
Aber schon nach wenigen Metern holte Judd sie ein. Sie begriff, dass sie von jetzt an keinen Einfluss mehr auf das hatte, was geschah. Hoffentlich würde Nicole ihr je verzeihen, dass sie sich von Charles in die Sache hatte hineinziehen lassen. Aber etwas sagte ihr schon jetzt, dass das nicht einfach werden würde.
Patrick Evans, Charles’ Fahrer, holte sie und Judd vom Auckland International Airport ab. Anna sah aus dem Fenster: Sie waren fast zu Hause. Das Licht der Scheinwerfer glitt über die Beete mit Kamelien, welche die Straße im vornehmen Stadtteil Remuera säumten.
Als das neugotische Gebäude, nach den Originalplänen des Hauses der Masters, vor ihnen auftauchte, atmete Anna erleichtert auf.
Sie erinnerte sich noch gut an den Schock, den ihr der Anblick der Ruine über den Weinbergen Australiens versetzt hatte. So schnell konnte ein Zuhause zerstört werden. Natürlich gab es hier in der Stadt keine Buschfeuer, aber ein Haus und eine Familie waren vielerlei Bedrohungen von außen ausgesetzt.
Durch die Zeitverschiebung zwischen Adelaide und Auckland war es bereits dunkel, als sie auf das Grundstück fuhren. Aber die geschickte Beleuchtung brachte das Haus und den Garten sehr schön zur Geltung.
Anna sah Judd an, der neben ihr auf dem Rücksitz der Limousine saß, und wartete auf seine Reaktion.
„So sieht es also aus“, sagte er fast feierlich, während er das zweistöckige Gebäude aus rotem Ziegelstein betrachtete. „Meine Erinnerungen an damals sind … lückenhaft.“
„Es kommt dem Original sehr nahe, aber ist natürlich technisch auf dem neuesten Stand. Und trotz seiner Größe ist es richtig gemütlich“, erklärte Anna.
Vor dem von Säulen eingerahmten Eingangsportal hielt der Wagen an. Der besondere Baustil des Hauses wurde durch einen efeubewachsenen Turm betont, dessen Kupferdach von der Witterung grün geworden war.
„Das ist also dein Zuhause“, sagte Judd.
Anna zog es vor, auf diese Bemerkung nicht einzugehen. Stattdessen half sie Patrick beim Ausladen.
Als die Haustür geöffnet wurde, rechnete sie mit Charles, aber stattdessen stand Nicole vor ihnen.
Sie trug einen eleganten schwarzen Anzug und hatte die langen dunklen Haare zu einem Pferdeschwanz zusammengebunden. Ihr Gesicht wirkte blass, als sie den Mann betrachtete, der ihr Bruder war.
„Ich konnte es nicht glauben, als Charles mir gesagt hat, dass du kommst“, sagte sie steif.
Anna erschrak. Sie kannte ihre Freundin als überschwänglich, spontan und liebenswürdig. So … förmlich, so zurückhaltend, hatte sie Nicole noch nie erlebt.
Sie kam die Stufen herunter auf Anna zu und fragte: „Warum hast du mir nichts davon erzählt?“
Oh nein! Was wusste sie bereits? Hatte Charles ihr nur angekündigt, dass Judd zurückkam – oder ihr auch gesagt, was er ihm alles versprochen hatte?
Wie auch immer, die Antwort war dieselbe: „Weil Charles es so wollte.“
„Und ihm gegenüber fühlst du dich mehr verpflichtet als mir?“, fragte Nicole traurig.
„Das ist nicht fair!“
„Stimmt, ist es nicht. Aber hier ist einiges unfair …“ Mit ihren braunen Augen sah Nicole sie schmerzerfüllt an.
Anna legte ihr tröstend die Hand auf den Arm.
„Ich hätte es dir so gerne gesagt, aber ich durfte nicht. Bitte glaub mir.“
Nicole nickte und wandte sich wieder Judd zu. „So, Bruderherz, jetzt wird es Zeit, dich willkommen zu heißen.“
Sie breitete die Arme aus, und zu Annas Überraschung ging Judd auf sie zu und ließ sich umarmen. Die Geschwister hielten sich lange in den Armen, ehe sie einander wieder losließen.
Judd war überrascht, dass er so tiefe Gefühle beim Anblick seiner Schwester empfand. Sie war bei seinem Abschied erst ein Jahr gewesen, und er hatte sie sich nie erwachsen vorgestellt. Durch Charles’ Schuld waren sie getrennt worden und hatten damit viele gemeinsame Jahre verloren.
„Ich glaube, wir müssen einiges nachholen“, sagte er.
Nicole lachte. „Ja, allerdings! Was für eine Untertreibung! Jetzt komm erst mal rein. Dad wartet auf dich.“
„Kommst du mit?“, fragte er Anna.
„Ich finde, ihr solltet erst mal ungestört sein. Wir sehen uns dann beim Abendessen.“
„Jetzt sei doch nicht so!“, protestierte Nicole. „Dad will dich bestimmt auch dabeihaben.“
Ihre Aufforderung
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