Sommer unter dem Maulbeerbaum
erwidern.
Sie konnte sehen, dass der Schrank von innen sauber und in ausgezeichnetem Zustand war. Auf einem Bord lagen zwei in Leder gebundene Fotoalben, und Bailey verstand genug von Qualitätsware, um zu wissen, dass diese Alben ein kleines Vermögen gekostet hatten. Eine Welle der Entrüstung durchflutete sie. Seine Kinder lebten im Dreck, aber er trank Bier und besaß Fotoalben, in Leder gebunden.
Als habe er es mit einem Gegenstand von unschätzbarem Wert zu tun, nahm Rodney das oberste Album heraus, dann öffnete er es vorsichtig nach etwa zwei Drittel der Seiten. »Um eine Seite vertan«, verkündete er, während er auf sie zukam. »Normalerweise finde ich das, was ich suche, gleich beim ersten Versuch, aber Sie lassen mein Herz so hoch schlagen, dass ich nicht mehr klar denken kann.«
Warum, oh, warum nur hatte sie nicht Matt mitgebracht? Oder Violet? Oder einen Revolver?
Sie nahm das Album entgegen, das er ihr so ehrfurchtsvoll hinhielt, und sah sich das Foto an, auf das er mit seinen schmutzigen Fingern zeigte.
»Da ist sie. Das ist Ihre T. L. Spangier, als sie noch mit uns zur Schule ging. Ist sie nicht so ziemlich das Hässlichste, was Sie je gesehen haben?«
Bailey betrachtete das Mädchen auf dem Foto und musste zugeben, dass sie das war, was man zuweilen als »bedauernswert« bezeichnete. Sie hatte krauses Haar, das ihr vom Kopf abstand, dicke Brillengläser, schiefe, vorstehende Zähne, kein erkennbares Kinn sowie extrem starke Akne.
»Und jetzt sehen Sie sich das hier an«, sagte Rodney und blätterte eine Seite weiter.
Das Titelblatt einer Ausgabe des Time Magazine war dort eingeklebt worden. Darauf waren die Gesichter von drei Frauen abgebildet unter der Überschrift: »Die Zukunft von morgen«. Bailey musste das Kleingedruckte nachlesen, um zu erkennen, dass es sich bei der Frau im Vordergrund um die Senatorin Spangier handelte. Ihr Haar war jetzt glatt, sie trug keine Brille mehr, ihre Zähne waren gerichtet, inzwischen hatte sie auch ein Kinn, und ihre Haut hatte sich regeneriert.
»Guter Chirurg«, sagte Bailey anerkennend. »Wer das wohl gemacht hat?«
Rodney sah sie an, als sei sie schwachsinnig und habe überhaupt nicht begriffen, worum es ging. Er blätterte die Seite zurück. »Dieses Mädchen war verrückt nach Kyle. Sie wollte ihn unbedingt haben. Als wir auf der Schule waren, hat sie alles Erdenkliche getan, um seine Aufmerksamkeit zu erregen, und als er sie nicht mal mit der Kneifzange anfassen wollte, da hat sie geschworen, es ihm heimzuzahlen. Deshalb hat sie dieses Buch geschrieben.«
»Ich verstehe«, sagte Bailey. Sie gab ihm das Album zurück. »Also, eh, Mr Yates, Sie erinnern sich nicht an einen Jungen mit einer Hasenscharte?«
Rodney schloss das Buch und legte es sorgfältig wieder an seinen Platz im Schrank. »Wie alt war er
1968?«
»Neun«, antwortete Bailey.
»Nein, an so ein Kind erinnere ich mich nicht. Sind Sie sicher, dass er aus Calburn stammte?«
»Ja. Ich -« Sie war drauf und dran gewesen zu sagen, dass sie ein Foto von ihm vor dem Maulbeerbaum auf ihrer Farm besaß, doch etwas hielt sie zurück. Und sie wollte ihm auf keinen Fall mitteilen, dass sie einen Abzug des Bildes in ihrem Auto liegen hatte. »Wissen Sie was, ich glaube, ich sollte jetzt besser gehen.«
»Sie können noch nicht gehen«, entgegnete Rodney und kam ihr bedrohlich nahe. »Ich habe drei Alben voller Bilder. Sie und ich, wir könnten uns hinsetzen und uns jedes einzelne Bild ansehen.«
Bailey erhob sich. »Ein anderes Mal vielleicht«, sagte sie und steuerte auf die Tür zu. Wenn ich eine bewaffnete Eskorte dabeihabe, dachte sie.
Rodney stellte sich in die Tür. »Sie können noch nicht gehen. Es ist noch zu früh«, verkündete er mit einer Stimme, die er, wie Bailey vermutete, für sexy hielt.
Sie legte die Hand auf den Türriegel und zog daran. Innerhalb von zwei Sekunden war sie aus dem Haus, die Treppe hinunter und auf dem Weg zu ihrem Wagen. Lass mich bitte nur hier wegkommen, betete sie.
»Warten Sie einen Moment!«, rief Rodney von der Veranda aus.
Bailey blieb stehen, drehte sich aber nicht um.
»Ich hatte es ganz vergessen: Lucas McCallum hatte eine Hasenscharte, aber in dem Sommer war er vierzehn. Kräftiger Junge, gut gebaut.«
Langsam drehte sich Bailey um und sah ihn an.
Rodney machte eine Bewegung mit seiner Schulter, die Bailey tausendmal bei Jimmy gesehen hatte. »Er war ein hässliches Kind. Ich meine, echt hässlich. Die Oberlippe war bis rauf in seine
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