Sommer unter dem Maulbeerbaum
Verlassenheit.
»Was in aller Welt ist hier passiert?«, fragte sie sich laut. »Warum sind diese Leute weggegangen?«
Als sie bei der Kreuzung ankam, sah sie, dass die meisten Läden leer standen. Einige waren mit Brettern vernagelt, andere hatten schmutzige Fensterscheiben mit nichts dahinter. In ein paar Schaufenstern hingen vergilbte Schilder, auf denen stand: »Zu vermieten«.
Trotz alledem waren doch noch ein paar Geschäfte in Calburn geöffnet. Ein Gebäude sah aus, als habe man aus zweien eins gemacht. Auf der einen Seite befand sich eine Poststelle, auf der anderen ein Schnellrestaurant. Es gab auch einen Antiquitätenladen, doch die Sachen, die sie hinter dem schmutzigen Glas ausmachen konnte, waren eher alt als antik. Dann waren da noch ein Laden für Tiernahrung, der angab, er führe auch Haushaltswaren, sowie ein Lebensmittelgeschäft. Davor stand ein Behälter mit Gemüse; es sah nicht besonders frisch aus. Bailey fand, sie und Matt würden sich einmal gründlich darüber unterhalten müssen, wo sie einkaufen ging.
Ein Kurzwarenladen verlieh auch Videos und verkaufte Eis. Und am Ende der Straße befand sich Opals Schönheitssalon.
Ohne zu zögern bog Bailey in die leere Parklücke vor dem Laden ein. Wenn sie etwas erfahren wollte, musste sie hier anfangen.
Als sie die Tür öffnete, erklang ein Glöckchen, doch das junge Mädchen, das mit einem Schokoriegel in der Hand in einem Sessel saß, blickte nicht von seiner Filmzeitschrift auf. Sie hatte weißblondes Haar mit schwarzen Wurzeln, das in viele kleine, mit verschiedenfarbigen Bändern zusammengebundene Büschel unterteilt war. Ihre Augen waren tiefschwarz umrandet. Obwohl es ein warmer Tag war, trug sie ein Sweatshirt, in dem ein Nilpferdbaby Platz gehabt hätte, sowie enge, schwarze Torerohosen.
»Ja?«, sagte sie und wandte den Kopf in die ungefähre Richtung der Tür, sah Bailey aber nicht an. »Wollen Sie was?«
»Ich frage mich, ob ...« Bailey zögerte. Vielleicht war es doch keine so gute Idee. Vielleicht wollte sie lieber nicht, dass diese junge Frau ihren Haaren zu nahe kam.
»Carla!«, ertönte eine Stimme von hinten. »Sieh nach, wer das ist.«
»Ja, Ma«, kam es müde aus dem Mund des Mädchens in dem Sessel. »In einer Minute.«
Bailey war gerade im Begriff zu erklären, dass sie es sich anders überlegt habe, als plötzlich eine Frau hinter einem Vorhang hervortrat und dann wie angewurzelt stehen blieb und Bailey anstarrte.
»Sie sind es«, ließ sich die Frau schließlich vernehmen.
Für einen schrecklichen Augenblick fürchtete Bailey, die Frau würde sagen, sie sei doch Lillian Manville, die Frau des Milliardärs.
»Sie sind doch die Witwe, die das alte Hanley-Anwesen gekauft hat, nicht wahr? Und heute zieht Matt Longacre bei Ihnen ein, richtig?«
Mit einem Lächeln nickte Bailey. Sie hatte Recht gehabt: Wenn sie wissen wollte, was in Calburn vor sich ging, war sie an die richtige Adresse gekommen.
»Steh auf!«, fauchte die Frau das Mädchen in dem Sessel an, das Bailey inzwischen anstarrte, als sei sie gerade einem Raumschiff entstiegen. Die Frau musste die Schulter des Mädchens kräftig schütteln, bevor es den Sessel frei machte. »Geh in den Laden und hol ihr was zu trinken«, wies sie das Mädchen an. Sie sah zurück zu Bailey. »Wollen Sie Farbe? ’ne Dauerwelle? Oder vielleicht wollen Sie ja Strähnchen? Oder ’nen Schnitt? Ich bin übrigens Opal.«
»Nein, wirklich«, entgegnete Bailey. »Ich wollte nur ...« Ein paar Fragen stellen, lag es ihr auf der Zunge, doch die beiden sahen sie so erwartungsvoll an, dass sie es nicht über sich brachte, sie zu enttäuschen. »Nur waschen und föhnen«, hörte sie sich sagen, und im nächsten Augenblick hatte die Frau das Regiment übernommen. Sie nahm Baileys Arm und zerrte sie fast in den Sessel, während ihre Tochter mit einem Mal genügend Leben in sich hatte, um nach draußen zu eilen und möglichst schnell eine Limonade aufzutreiben.
Als Bailey den Frisiersalon wieder verließ, hielt sie die Schultern gerade, und als sie ins Auto stieg, winkte sie Opal und Carla zu, die sie durchs Fenster beobachteten.
Mit einem eingefrorenen Lächeln im Gesicht fuhr Bailey aus Calburn hinaus. Doch sobald sie die Stadt hinter sich gelassen hatte, hielt sie unter ein paar Bäumen an und schaltete den Motor ab. Sie wühlte in ihrer Handtasche nach ihrer großen Bürste und stieg dann aus, um sich im Schatten die Haare zu bürsten.
Diese Frau musste ihr eine halbe Flasche
Weitere Kostenlose Bücher