Sommerglück
Einsatz des Generals im Amerikanischen Unabhängigkeitskrieg beschrieb und das jedes Kind kannte:
Hört, meine Kinder, und lauschet der Mär
Vom Mitternachtsritt des Paul Revere,
Am achtzehnten April fünfundsiebzig gescheh’n;
Kaum ein Mann, der’s erlebt,
könnt’s heut noch erzähl’n,
Wer gedenkt des berühmten Tags, der so lange her.
Obwohl Eliza längst zu alt war, um Milch aus einem Babybecher zu trinken, einem
quart militaire,
selbst wenn dieser so kostbar war wie ihrer, gefiel ihr der Gedanke, dass er sich in ihrem Elternhaus befand, wo sie ihn jederzeit anschauen und in die Hand nehmen konnte, wenn ihr danach war. Und seit dem Unfall hatte sie nun zum ersten Mal wieder Lust dazu.
Sie tappte ins Esszimmer und öffnete den Schrank. Da war ihr Puppengeschirr – winzige Tassen und Unterteller mit Monogramm. Und dahinter … gähnende Leere! Eliza griff in den Schrank und tastete alles ab: Das war doch nicht möglich! Keuchend und inzwischen auf den Knien, spähte sie hinein. Er war tatsächlich weg! Ihr einmaliges, unsäglich kostbares Erbstück aus dem Amerikanischen Unabhängigkeitskrieg, von Paul Revere gefertigt, war spurlos verschwunden …
Ein Erbstück ihrer Mutter, die den Becher von ihrer eigenen Mutter geschenkt bekommen hatte, und die hatte ihn wiederum von IHRER Mutter, bis zurück zu Diana, die ihn von dem General bekommen hatte! Er war in der kleinen Vitrine aufbewahrt worden, die ihr Vater eigens für sie gebaut hatte – eine Miniaturversion des Schreibtisches in seinem Büro, aus honduranischem Mahagoni geschnitzt, mit Meerjungfrauen und Kammmuscheln, nur für ihr Puppengeschirr und ihren Silberbecher, und nun war der Becher weg!
Hektisch rannte Eliza im Raum hin und her, suchte in der Anrichte, auf den Bücherregalen, sogar unter den Sesseln. Wo konnte er nur sein? Der Becher war unbezahlbar, gelinde gesagt. Er war nicht nur Teil einer Legende, sondern auch das wertvollste Geschenk, das sie von ihrer Mutter erhalten hatte.
Was immer ihre Mutter auch getan hatte, sie war Elizas Ein und Alles gewesen. Sie hatte ihr erlaubt, Milch aus dem Becher zu trinken, und diese Zeit war für beide immer etwas Besonderes gewesen. Welche andere Mutter hätte ein kleines Kind Milch aus einer unbezahlbaren Antiquität trinken lassen?
»Oh Gott, oh Gott!«, stöhnte Eliza, während sie das ganze Haus auf den Kopf stellte. Schluchzend lief sie von Raum zu Raum und rang die Hände. Sie fühlte sich wie betäubt. Ein Einbrecher hatte ihn offenbar gestohlen! Ihr Vater hätte den Becher nie verräumt … Sie musste Annie anrufen; Annie wusste immer Rat, würde ihr sagen, was zu tun war. Sie griff zum Telefon und wählte ihre Nummer.
»Annie, Annie«, sagte sie laut, ungeduldig wartend, dass ihre Freundin den Hörer abnahm.
In dem Moment klopfte es an der Tür.
Eliza fuhr herum, dann blickte sie wieder das Telefon an. Was sollte sie jetzt tun? Eigentlich durfte sie niemandem aufmachen. Aber sie war völlig aufgelöst und musste wissen, wer draußen war.
Sie spähte aus dem Fenster, war zunächst verdutzt, doch dann erleichtert.
»Mr.Boland!« Sie öffnete die Tür. »Ich wollte gerade die Polizei benachrichtigen! Jemand hat meinen Becher gestohlen, meinen Silberbecher aus dem Unabhängigkeitskrieg.«
»Wirklich? Bist du sicher?«
»Hundertprozentig. Er ist weg.«
Irgendwie war es seltsam, dass Mr.Boland zu ihr nach Hause kam. Früher hatten ihre Mutter und sie nur in der Bank mit ihm zu tun gehabt, und mit Annies Vater, was völlig reichte – diese Abstecher zur Bank waren ihr immer furchtbar langweilig vorgekommen. Ihn wieder zu sehen, stimmte sie traurig; sie hätte liebend gerne einen langweiligen Tag in der Bank verbracht, wenn sie dafür ihre Mutter zurückbekam.
»Ähm, entschuldigen Sie, aber ich muss schnell die Polizei anrufen.«
»Also, ich bin froh, dass du das noch nicht getan hast.«
»Warum?«, fragte Eliza und überlegte fieberhaft, wo sie seine Stimme unlängst gehört hatte, abgesehen von der Bank …
Eliza, Eliza, deine Mutter braucht dich …
Ihr Herz klopfte wie verrückt, eine unerklärliche Angst ergriff sie; sie sah einen kleinen gelben Schwamm aus dem Nichts auftauchen und wich zurück. »Was tun Sie hier überhaupt?«
Dann roch sie etwas, das süßer war wie ein ganzer Garten voller Blumen, und sackte zu Boden.
Es läutete, doch als Annie das tragbare Telefon endlich fand, hatte der Anrufer bereits aufgelegt. Sie hielt den Hörer in der Hand,
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