Song of the Slums
doch es gab etwas anderes, das sie tun wollte, denn sie hatte das Klavier im Nebenraum nicht vergessen: eine halbe Stunde Musik, bevor die Kinder erschienen! Ihre Finger sehnten sich geradezu nach den Klaviertasten.
Der Miniatur-Konzertsaal lag nahezu im Dunkeln; die Stühle waren im Halbkreis angeordnet wie für ein unsichtbares Publikum. Astor setzte sich auf den Klavierhocker, hob den Deckel und begann zu spielen. Das Klavier war nicht perfekt gestimmt, aber gut genug. Während ihre Finger über die Tasten glitten, hörte sich die Melodie in ihren Ohren genauso an, wie sie sein musste.
Musik war ihre Leidenschaft, so wie einst die ihres Vaters. Gerade jetzt war die Musik ihre Freude und ihr Trost zugleich. Wenn sie eines der Lieblingsstücke ihres Vaters spielte, brachen alle Erinnerungen an ihn über sie hinein. Er beherrschte das Klavier ebenso gut wie die Violine, und oft, als sie ein kleines Mädchen war, setzte er sie auf seinen Schoß und führte ihre Hände und Finger zu den richtigen Tasten, so dass sie – mit seiner Hilfe – ein ganzes Lied spielen konnte. Sie sah ihn vor sich mit seinem gepflegten Bärtchen, sah seine leichten flinken Bewegungen, sein ruhiges Lächeln, seine sanften Augen und spürte die Aura der Sicherheit, die er ausstrahlte. Sie war gerade sechs Jahre alt, als er getötet wurde.
Sie hatte etwa zehn Minuten gespielt, als sie einen Luftzug hinter sich spürte. Jemand hatte eine Tür geöffnet – aber nicht die, die zu den anderen Schulzimmern führte, sondern die zum Korridor. Sie spielte einfach weiter, ohne sich umzusehen. Vielleicht war es ein neugieriger Bediensteter oder einer ihrer Schüler. Sollten sie doch zuhören! So kamen sie zur Abwechslung auch mal in den Genuss von etwas Schönem!
Sie spielte das Stück zu Ende und blickte dann über ihre Schulter. Es war Lorrain Swale! Er stand wie gebannt in der Tür und hörte zu. Er blickte weg, als sie ihn ansah, und sein schwarzes Haar fiel ihm über die Augen. Ihre Finger schienen das nächste Stück wie von selbst ausgesucht zu haben, denn ohne nachzudenken spielte sie nun ein Impromptu von Schubert. Jetzt spürte sie seinen Blick in ihrem Rücken.
Sie dachte daran, wie er sie angesehen hatte, als sie sich zum ersten Mal begegnet waren, erst oben auf dem Aerodock der Swales und dann im Empfangssaal. Sie hatte sich bestimmt nicht in seinem Blick getäuscht. Wenn es nur nach ihm ginge und nicht nach seinen Brüdern, hätte er bereits um ihre Hand angehalten. Es könnte Liebe auf den ersten Blick, es
musste
Liebe auf den ersten Blick gewesen sein.
Sie spielte ein Stück nach dem anderen, die süßesten, traurigsten und romantischsten Stücke, die sie kannte. Es war wie in einem Traum, in dem sie von der Musik völlig gefangen waren. Sie spielte immer langsamer, immer zarter, ihre Finger liebkosten die Tasten und ließen nur noch das zarteste Säuseln einer Melodie erklingen. Sie wusste, er war jetzt mit Haut und Haaren der Ihre, sie hatte ihn komplett unter ihrer Kontrolle.
Es war wie eine Zeit außerhalb der Zeit, aber langsam kam sie nun zum Ende, die letzten Noten hingen noch leise nachklingend in der Luft. Dann drehte sie sich, um ihm in die Augen zu sehen. Sie waren mit Tränen gefüllt, und sein blasses Gesicht war gerötet. Die Musik hatte seine Seele bewegt.
Es gab keinen Anlass für Worte. Astors Blick war eine offene Herausforderung.
Also, was ist? Was wirst du nun tun?
Vielleicht war die Herausforderung zu groß. Lorrain blinzelte und schüttelte dann den Kopf, wie um den Zauber zu brechen. Dann ging er ganz langsam rückwärts durch die Tür, wie ein Mensch unter Wasser. Als er die Tür hinter sich geschlossen hatte, kehrte auch Astor in die Gegenwart zurück … aber in eine bessere und vielversprechendere Gegenwart als zuvor. Könnte es doch in Erfüllung gehen?, fragte sie sich.
Sie glaubte nicht an die romantische Liebe in der Art wie ihre Mutter es tat. Mrs Dorrin träumte Aschenputtel-Märchen, in denen die Tochter des armen Musikers die Liebe eines noblen Prinzen gewann – oder, wie in diesem Fall, die eines reichen Erben. Astor wusste, dass das echte Leben so nicht funktionierte. Und doch … sie hatte Lorrain Swales Herz in ihren Händen gehalten, da war sie sich sicher.
Das hieß noch nicht, dass es ein Happy End geben würde, aber es war zumindest ein Anfang. Massive Hürden standen dem im Weg, aber keine unüberwindlichen. Bartizan und Phillidas waren nicht die Ersten, die ihre Entschlossenheit
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