Song of the Slums
Sonnenstrahlen auf ihrer Haut. Sie atmete noch immer tief ein und blinzelte ins Licht, als sie von der anderen Seite des Daches den Ruf »Wer ist da?« hörte. Es war natürlich Verrols Stimme, und kurz darauf kam er hinter dem Kegel in Sicht.
»Sie!«, rief er.
Astor sah über den respektlosen Ausruf hinweg. »Ja, ich. Ich habe den Weg selbst gefunden.«
Sie kauerte noch immer auf dem schrägen Dach, während Verrol auf einer Art steinernen Abflussrinne unterhalb des Kegels stand. Er hielt ihr die Hand hin, die sie ergriff, und schon stand sie aufrecht neben ihm.
»Danke«, sagte sie.
Glücklicherweise litt sie nicht unter Höhenangst, denn die Brüstung, die die Abflussrinne umgab, war kaum höher als zehn Zentimeter. Sie blickte auf das Smogmeer, diese schmutzige wabernde Masse, hinunter. Im Gegensatz dazu war der Himmel heiter und klar und von einem so delikaten Blau, dass es ihr die Tränen in die Augen trieb.
»Da unten ist also Brummingham«, sagte sie.
»
Nein, da drunter
. Abgesehen von dem einen Schlot.« Er zeigte auf eine Art schwarzen Stumpf, der aus der gelblich-braunen Brühe herausguckte. »Das ist der höchste Schlot von Brummingham.«
»Er raucht ja gar nicht«, stellte Astor fest.
»Nein, er gehört zu einer Munitionsfabrik. Sie ist seit Ende des Krieges geschlossen. Aber man kann die anderen Fabriken arbeiten hören.«
Astor nahm jetzt ein leises Pochen wahr, wie von einem gedämpften Herzschlag. Das musste das Geräusch sein, das er meinte.
»Kommen Sie mit«, sagte er plötzlich, drehte sich um und lief geschickt die Abflussrinne entlang.
Erstaunt folgte ihm Astor, ganz vorsichtig einen Fuß vor den anderen setzend. Das Rätsel war bald gelöst. Auf der anderen Seite des Kegels war, mitten in der Sonne, eine alte Decke über das schräge Dach ausgebreitet. Und darauf stand ein kleiner gefüllter Korb.
»Ein Picknick!«, rief sie aus.
Er grinste. »Ich habe mir bei den Küchenmädchen ein bisschen Essen organisieren können.«
Astor erinnerte sich, was Mrs Munnock über den Eindruck gesagt hatte, den Verrol auf die Dienstmädchen gemacht hatte. Sie verstand auch, was die Mädchen so attraktiv fanden. Die lässige Art, in der er seinen schlanken langgliedrigen Körper bewegte, war bei einem Diener völlig fehl am Platze. Wie ein Fuchs in einem Hühnerstall, dachte sie.
»Dann mögen dich die Küchenmädchen also auch?«, fragte sie.
»Wie bitte?«
»Ich habe gehört, dass du dich bei den Dienstmädchen bereits großer Beliebtheit erfreust.«
»Tue ich das? Bei den Dienstboten und Dienern jedenfalls nicht. Die haben mir den Spitznamen
die Zofe
verpasst, aufgrund meiner Rolle Ihnen gegenüber.«
»Tut mir leid.« Astor lächelte innerlich. Natürlich verabscheuten die männlichen Diener jeden Fuchs in
ihrem
Hühnerhaus.
Er zuckte mit den Schultern. »Wenn’s weiter nichts ist.«
Astor war sich sicher, dass keiner der Diener sich über verbale Angriffe hinauswagen würde. Irgendwie war Verrol nicht der Typ, mit dem man einfach so einen Streit vom Zaun brach.
»Darf ich Ihnen etwas von meinem Picknick anbieten?«, fragte er.
Sie nickte und setzte sich auf die Decke. Verrol setzte sich auch und stellte den Korb zwischen sie.
Er streckte seine langen Beine aus und stemmte seine Füße gegen die Brüstung.
»Bedienen Sie sich«, sagte er.
Sie suchte sich ein Roastbeef-Sandwich aus. Es war mit einer Meerrettichsauce bestrichen, die so würzig war, dass Astor beim ersten Bissen zusammenzuckte. Doch nach dem dritten Bissen konnte sie kaum genug davon bekommen, außerdem merkte sie jetzt erst, wie hungrig sie war. Als nächstes ließ sie sich ein Stückchen Käse schmecken, danach ein Marmeladenküchlein und zum Abschluss eine kleine Pastete.
Verrol zeigte auf die Sonne, die als goldener Ball über den Smogwolken stand.
»Noch anderthalb Stunden bis zum Sonnenuntergang«, sagte er. »Dann fliegen alle Vögel hoch.«
»Vögel?«
»Ja, jeden Abend bei den letzten Sonnenstrahlen. Die Vögel lassen die Smogdecke hinter sich und fliegen in Kreisen den Sonnenstrahlen entgegen. Höher und höher, hunderte und aberhunderte von ihnen.«
Astor schirmte ihre Augen mit der Hand ab und blickte in die Ferne. »In welcher Richtung liegt Dorrin Estate?«, fragte sie.
»Dort.« Er zeigte nach Norden. »Wenn wir so weit blicken könnten, würden wir sehen, wie sich die Berge der Penninen hinter den Smogwolken erheben.«
»Es ist wunderschön dort, das Heideland und die
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