Song of the Slums
hinten gegen ihren Hals. Instinktiv versuchte sie sich freizuwinden, aber er ließ sie nicht los.
Sie entspannte sich … sie zwang sich zu entspannen. Sie atmete in kleinen Atemzügen durch das Tuch hindurch ein. Und nach einer halben Minute war der Hustenreflex gebannt. Sie nickte Verrol zu, worauf der sie losließ.
Sie standen halb im Kamin und halb schon außerhalb, gerade noch unter dem Rauchabzug. Noch immer strömte Rauch aus dem Loch in der Wand. Fragend schaute Astor Verrol an.
»Der Mann, mit dem sie sprechen, ist Ephraim Chard, der Führer der Opposition und Vorsitzende der Fortschrittspartei«, erklärte Verrol flüsternd. »Die Fortschrittspartei steht mit den Plutokraten im Bunde gegen die Agrarierpartei. Die Agrarierpartei wiederum wird vom alten Landadel angeführt, während die Fortschrittspartei die neuen städtischen Industriellen und Unternehmer repräsentiert.«
»Und wer repräsentiert das einfache Volk?«
»Niemand. Die einfachen Leute dürfen doch nicht wählen. Wissen Sie denn wirklich gar nichts über Politik?«
Astor hätte gern eine zurechtweisende Bemerkung gemacht, doch je weniger sie sprachen, desto besser war es. Sie wartete einen Moment, dann flüsterte sie: »Also, was haben die vor?«
»Die Fortschrittspartei will zurück an die Macht. Chard möchte Hassock als Premierminister ablösen. Sie sagen, sie wollen Druck machen, aber ich weiß nicht wie … Kommen Sie, der Rauch hat sich verzogen.«
Wieder beugten sie sich Kopf an Kopf zu dem Loch und spähten in das Herrenzimmer. Das Feuer hatte seine vormalige Höhe, aber nichtsdestoweniger hielt Astor sich zur Sicherheit eine Hand vor den Mund.
»
Unsere
Männer stehen bereit«, sagte Bartizan gerade. »Alle gerüstet und marschfertig. Wie sieht es mit den anderen aus?«
»Yorkshire und Lancashire stehen geschlossen da. Clydeside ist seit Wochen bereit – die da oben hassen die Agrarier wirklich. Tyneport und Teesbank sind auch bald bereit.«
»Bewaffnet?«, fragte Phillidas.
»Viele haben noch ihre Kriegswaffen. Büchsen und Bajonette. Die anderen haben Attrappen.«
»
Attrappen!
« Phillidas gab sein brüllendes Gelächter von sich. Er schien unbeeindruckt.
»Was ist mit der Hauptstadt?«, fragte Bartizan.
»Die Londoner Milizen sind vorbereitet. Wir arbeiten noch daran, einige der kleinen Geschäftsleute auf unsere Seite zu bekommen. Aber jetzt, wo wir unsere Galionsfigur haben …«
»In aller Form bestätigt und unterschrieben«, sagte Bartizan.
»Ja. Daher wird es jetzt auch nicht mehr schwer sein, sie auf unsere Seite zu bekommen.«
»Nennen Sie uns ein Datum.«
»Ich denke mal im November. Leider sind nicht alle unsere Unterstützer so risikofreudig wie Sie«, schmeichelte Chard und lächelte etwas schmierig.
»Eben deshalb werden sie
kleine
Geschäftsleute bleiben«, schnaubte Bartizan und stellte sich noch breitbeiniger hin. »Die Swales stehen ganz oben, weil sie kalkulierbare Risiken eingegangen sind. Habe ich recht, Bruder?«
Phillidas gab keine Antwort, stattdessen zog er einen Bleistift und ein Notizbuch hervor.
»Ich hätte gerne die Zahlen«, sagte er zu Chard. »Wie viele Milizionäre? Wie viele Marschierer?«
»Wo soll ich beginnen?«
»Clydeside«, sagte Phillidas und schrieb den Namen nieder. »Wie viele?«
»Fünftausend. Jellett geht davon aus, dass die Hälfte marschieren wird.«
»Also zweitausendfünfhundert …«
In den nächsten Minuten drehte sich das Gespräch nur um Zahlen, und die einzige Bewegung ging von Phillidas aus, der in sein Notizbuch schrieb. Astor merkte, wie Verrol ihr ein Zeichen gab. Hier gab es nichts Neues mehr zu erfahren.
Gemeinsam zogen sie sich zurück, und Verrol setzte vorsichtig den Backstein wieder in das Loch in der Wand ein. Als sie aus dem Kamin heraustraten, musste Astor lachen. Verrols Gesicht war voller schwarzer Streifen, vermutlich weil er es gegen die verrußte Wand gedrückt hatte. Er grinste auch und zeigte auf sie – ihr Gesicht war also ebenso schwarz gefärbt wie seines. Er wischte sein Gesicht mit dem Ärmel seiner Jacke ab, während sie ihr Taschentuch benutzte. Als alle Rußstreifen verschwunden waren, war auch der Ernst zurückgekehrt.
»Sie planen eine Verschwörung, oder?«, fragte Astor.
»Mit den Milizionären, von denen du gesprochen hattest?«
»Ja. Ich hatte mir ja schon gedacht, dass da etwas läuft, aber mit so einer großen Sache habe ich nicht gerechnet. Es ist übel.«
»Mmm.« In Astors Kopf begann eine Idee Gestalt
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