Song of the Slums
anzunehmen. Die Verschwörung war vielleicht schlecht für das Land, aber für
sie
könnte ein Hoffnungsschimmer damit verbunden sein. »Erklär mir nochmal alles«, sagte sie. »Erklär mir ganz genau, was du glaubst, was sie vorhaben.«
• 18 •
Lieber Stiefvater
,
ich hoffe sehr, dass es allen in Dorrin Estate gut geht. Ich schreibe, um Ihnen eine überlebenswichtige Information weiterzugeben, die mir hier, während meines Aufenthalts in Swale House, durch puren Zufall zu Ohren gekommen ist
.
Astor hatte sich die Worte bereits am gestrigen Abend zurechtgelegt, aber mit dem Schreiben bis zum Morgen gewartet. Dies war der schwierigste Brief ihres Lebens. Es kostete sie viel Überwindung von
meinem Aufenthalt in Swale House
zu schreiben, als sei sie nicht durch Täuschung in die Rolle der Hauslehrerin gedrängt worden, als lebe sie hier im Luxus statt in einem winzig kleinen Zimmer. Sie biss die Zähne zusammen und schrieb weiter.
Die Fortschrittspartei hat gemeinsam mit den Swale-Brüdern, Mr Bartizan Swale und Mr Phillidas Swale, und weiteren Plutokraten in Clydeside, Yorkshire, Lancashire, Tyneport, Teesbank und London eine Verschwörung geplant. Sie haben tausende unzufriedene Kriegsveteranen zusammengetrommelt, die einen Marsch auf London machen sollen, um so Seine Königliche Hoheit zu zwingen, Premierminister Hassock und die Regierung der Agrarierpartei zu entlassen
.
Gut, dachte sie, es muss so nüchtern und unpersönlich wie möglich geschrieben sein. Marshal Dorrin konnte es nicht leiden, von persönlichen Gefühlen sprechen zu hören, speziell von Gefühlen der Frauen. Er hatte einfach zu viele Jahre in der Armee verbracht, das war sein Problem. Eine Frau war für ihn das unbekannte Wesen: unvorhersehbar, irrational, unberechenbar. Und wenn es etwas gab, das er leiden konnte, so war das Berechenbarkeit!
Astor erinnerte sich an den Haushalt in Dorrin Estate, wo selbst die Köche männlich waren. Alles lief nach einem Zeitplan, der schon lange existiert hatte, bevor ihre Mutter und sie dort einzogen. Astor hatte immer das Gefühl gehabt, sie beide seien Eindringlinge, zu weich und unbestimmt, um in seinem starren Regime einen Platz zu finden. Zweifellos hätte er sich ihr gegenüber freundlicher verhalten, wenn sie ein Junge gewesen wäre.
Sie begann einen neuen Absatz.
Gestern hat Mr Ephraim Chard Swale House aufgesucht, und ich habe mit eigenen Ohren gehört, wie er seinen Anteil an der Verschwörung erläutert hat. Er hat den November als möglichen Termin genannt. Dies ist keine abenteuerliche Idee, ganz im Gegenteil, alles ist bis ins Kleinste durchgeplant, und sie haben fest vor, das Vorhaben in die Tat umzusetzen
.
Sie las den letzten Satz noch einmal, und fragte sich, ob sie wohl den richtigen Ton traf. Es wäre so viel einfacher, ihrer Mutter zu schreiben! Aber nein, das kam in diesem Fall nicht in Frage. Mrs Dorrin verstand von Politik noch weniger als Astor, und sie würde alles durcheinander bringen, wenn sie es ihrem Mann gegenüber wiederholte. Aber vor allem würde der Marshal es nicht ernst nehmen, wenn es von seiner Frau übermittelt würde; er würde es einfach als – sein Lieblingsausdruck –
weibisches Geplapper
abtun.
In Mrs Dorrins Augen war es ein Beweis der Liebe, dass Britanniens berühmtester lebender Militärbefehlshaber eine Frau geheiratet hatte, die in den Augen des Rests der Welt ein Niemand war. In Astors Augen jedoch genoss es ihr Stiefvater, eine Frau zu haben, die ein Niemand gewesen war, bis er sie durch die Heirat erhöht hatte. Mrs Dorrin war eine sanfte hübsche und sehr feminine Frau – eine perfekte Vertreterin all der Dinge, die er nicht verstand. Aber vielleicht musste er sie gar nicht verstehen, wenn sie seinen Erwartungen so exakt entsprach. Sie war einfach ein Weib, das sich
weibisch
benahm.
Für diesen Brief spielte das alles nicht die geringste Rolle. Astor schrieb weiter:
Ich maße mir nicht an, Ihnen zu irgendwelchen Handlungen zu raten, denn ich bin mir sicher, dass niemand besser als Sie weiß, wie gegen diese Verräter gehandelt werden muss. Sie wären mehr als schockiert, wenn Sie ahnten, mit welch fehlendem Respekt sie von unserem geliebten König George gesprochen haben
.
Eine Sache, auf die sie definitiv zählen konnte, war sein Patriotismus. Ihre Mutter hatte ihr unzählige Geschichten seiner tapferen Heldentaten für König und Vaterland erzählt. Er war fünf Mal verwundet worden und berühmt dafür, seine Truppen stets in
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