Sonnenkoenig
nicht gut aus. Leichenblass, die Augen geschlossen, wimmerte sie
vor sich hin.
»Julia!«
Keine Reaktion.
Jetzt erst bemerkte Carla, wie
schlecht es ihrer Schwester ging. Sie beugte sich zu ihr, fühlte den Puls am
Hals. »Sie muss zu einem Arzt. Lass uns in die Klinik fahren.«
»Um stundenlang in der Notaufnahme
rumzusitzen und ständig vertröstet zu werden? Das schaffe ich nicht. Ich
glaube, ich habe eine bessere Idee.«
Ninus gab Gas. Zum Glück war um
diese Uhrzeit kaum Verkehr in der Innenstadt. Er kam schnell voran, wenn auch
die eine oder andere Ampel bereits ziemlich dunkelgelb leuchtete, als er über
die Kreuzungen schoss. Er raste durch die Bahnhofstraße, überquerte den 1.
Ring, um auf die Biebricher Allee zu gelangen. Wie gewöhnlich vergaß er die
Blitzanlage, die prompt ein schönes Foto schoss. Sei’s drum, dachte er.
Hoffentlich war Angelika zu Hause. Angelika war seine ehemalige Hausärztin.
Schon seine Eltern waren ihre Patienten gewesen und Ninus war ihr treu
geblieben. Sie kannte ihn in- und auswendig, hatte alle seine Wehwehchen
geheilt, nicht nur die physischen. Aus dem Patienten-Arzt-Verhältnis war im
Laufe der Jahre, besonders seit dem Tode seines Vaters und ihrer Unterstützung
bei Hagens daraufhin folgendem Absturz, eine feste Freundschaft geworden. Sie
hatte irgendwann die Praxis an ihren Sohn übergeben, genoss seitdem das Leben
und reiste in der Weltgeschichte umher. Nach der Kreuzung zum 2. Ring bog Ninus
rechts ab und bremste mit quietschenden Reifen vor einer der herrschaftlichen
Villen, die die Biebricher Allee links und rechts säumten. Er durchquerte den
Vorgarten, drückte rechts neben dem Praxiseingang auf eine Klingel. Bitte sei
zu Hause. Ein müdes »Bitte?« krächzte aus der Sprechanlage.
»Ich bin es, Ninus. Ich brauche
dringend deine Hilfe.«
»Komm hoch«, war die lapidare
Antwort. Ninus stieß die Tür auf, als der Summer ertönte und spurtete die
Treppe hinauf. Angelika öffnete ihm. Ihre grauen Haare standen wirr ab, sie
hatte sich einen Morgenmantel übergestreift, die nackten Füße steckten in
geräumigen, braunen Hausschuhen.
»Entschuldige, ich habe eine Frau
im Auto, der es ganz schlecht geht. Schockzustand oder so etwas Ähnliches.«
Angelikas kritischer Blick
veranlasste Ninus, eine Erklärung nachzuschieben. »Ich habe ihr nichts getan.
Sie wurde entführt und ich habe sie befreit und … ach, das glaubst du mir
sicher nicht. Lass es mich dir später erzählen. Es geht ihr wirklich nicht
gut.«
»Kannst du sie nach unten in die
Praxis bringen?«
»Wird gehen.«
»Worauf wartest du? Ich schließe
von innen auf. Musst dich nicht zu sehr beeilen, bin nicht mehr so flott wie
früher.«
Ninus rannte die Treppe wieder
runter und sah, wie Carla die Beifahrertür öffnete und auf Julia einredete.
»Hilf mir, sie in die Praxis zu
bringen. Wir nehmen sie zwischen uns.«
Das war leichter gesagt als getan.
Sie halfen Julia aus dem Wagen und führten sie behutsam über den Bürgersteig,
durch den kleinen Vorgarten, hinein in die Praxisräume.
»Unverantwortlich! Wirst du denn
nie erwachsen?« Angelika war wütend, schimpfte wie ein Rohrspatz. »Das Mädchen
hätte sterben können. Ich will gar nicht wissen, warum ihr keinen Notarzt
gerufen habt – und Sie, junge Frau«, Angelika fixierte Carla über ihre
Brillengläser hinweg, »unterstützen diesen Hallodri bei seinen Eskapaden.
Können wahrscheinlich froh sein, dass Ihr Gelenk nicht gebrochen ist. Nicht zu
fassen.«
Wie zwei begossene Pudel standen
Ninus und Carla vor ihr. Ninus wusste, dass das Donnerwetter sich schnell
wieder verziehen würde. Julia ging es wieder besser, nur das alleine zählte.
Angelikas Spritze hatte ihr neues Leben eingehaucht.
»Und jetzt?«, fragte Angelika.
»Wie ich dich kenne, kommt da doch noch mehr, oder irre ich mich?«
»Tja, es ist … die beiden Frauen
müssen sich eine Zeit lang verstecken, bis ich morgen etwas gefunden habe. Da
dachte ich …«
»… dachtest du, sie könnten bei
der guten, alten Angelika unterkommen. Ninus, Ninus. Dir genügt es anscheinend
nicht, mich zu nachtschlafender Zeit aus den Federn zu jagen und mir eine halb
tote Frau in die Praxis zu schleppen, nein, der Herr möchte meine schöne Villa
gleich zu einem konspirativen Versteck umfunktionieren. Was denkst du
eigentlich, wer oder was ich bin? Mutter Teresa?«
»Beinahe, jedenfalls. Nein, im
Ernst. Es wäre superlieb von dir, wenn die zwei heute Nacht hier bleiben
könnten. Soviel ich
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