Sonst kommt dich der Jäger holen
Knoten reinmachen!«, befahl er mir und hielt mir den geschmeidigen rosa Schlund entgegen.
»Palsteg?«, versuchte ich einen Scherz.
»Den Knoten hat die Walli immer gemacht. Der Knoten ist wichtig, damit das Anverdaute drinnen bleibt. Pansen stinkt. Da hat die Walli beim ersten Mal sogar brechen müssen. Das war ihr arg. Ich hab dann immer aufgepasst, dass der Knoten dicht ist. Aber das ist ja ganz normal, denn das Reh verdaut erst mal vor und käut dann wieder. Deshalb stinkt das so. Wiederkäuer verwerten Nahrung wesentlich besser als wir mit unserem Einmaldurchgang.«
»Besucht Sie der Benny eigentlich noch manchmal, jetzt wo die Laika tot ist?«, fragte ich.
Franz Brandl hielt inne, wischte das Messer erneut an dem Rehschenkel ab. Scharfes Messer. Erst in diesem Moment fiel es mir auf, dass ich völlig unverkrampft neben einem Messer stand. Das erste Mal seit meiner Stichverletzung war ich innerlich nicht zusammengezuckt, sobald jemand ein Messer grob benutzte. Bedeutete das, ich hatte mein Trauma überwunden? Oder war es ein Zeichen dafür, dass Franz Brandl sein Messer nicht als Waffe führte, sondern als … Werkzeug …, das er mit Bedacht und Einfühlungsvermögen ohne Aggression handhabte? Mit Liebe?
»Woher kennst du denn den Benny?«
»Vom Agility«, sagte ich.
»Jetzt brechen wir das Schloss auf«, sagte er und griff unter das Becken des Bocks. Auf einmal verzog er sein Gesicht.
»Scheiß Knie«, murmelte er und suchte sich eine andere Stellung.
»Gib mir mal das da drüben, nein, das da, gut.«
Ich reichte ihm eine Art Bolzenschneider, der auch eine riesige Gartenschere hätte sein können. Er setzte an, es knackste entsetzlich. Dann war das Becken gebrochen, und ich wusste, wie man das Schloss des Rehs knackte.
»Bist du mit dem Benny befreundet?«
Ich überlegte, ob ich Franz duzen sollte. Aber es war ihm wahrscheinlich gar nicht aufgefallen, oder es gehörte dazu, wenn man gemeinsam ein Schloss aufbrach.
»Ich kenn ihn bloß flüchtig.«
»Der Benny, das war ja wie ein zweites Kind für die Maria und mich. Wie der klein war, haben wir ihn ständig bei uns gehabt. Seine Mutter hat bei Puster gearbeitet, musste den Lebensunterhalt verdienen. Die Leute ham geglaubt, das wären Geschwister, die Walli und der Benny. Sind ja nicht mal ein Jahr auseinander.«
»Und dann waren sie ein Paar.«
Mit einer schnellen ruckartigen Bewegung zog Franz Brandl die Eingeweide des Rehbocks nach hinten aus dem aufgebrochenen Leib. Irgendwo hakte es. »Kimm scho«, zischte er und griff in die rot-weiße, weiche Masse, in das gelblichgraugrünliche Gekröse, aus dem dunkelrot Leber und Nieren leuchteten und hellrot wie Erdbeerspeise die Lungen.
»Ist der Benny auch ein Jäger?«, fragte ich.
»Freilich. Aber die Walli ist die Bessere gewesen. Wenn sie halt ned zu den grünen Vegetariern übergelaufen wär.«
»Sind die deswegen nicht zusammengeblieben, weil der Benny kein solcher ist?«, vermutete ich.
»In das Reh kömma reinschaun«, sagte Franz Brandl. »Das Reh ist jetzt leer. Aber in deine Tochter, da kannst du nicht neischaun.«
Nein, das konnte der Vater nicht. Er blieb an der Oberfläche seiner Fleischbeschau, betrachtete die Eingeweide mit geschultem Blick. Und ich neben dem Vater, der nicht meiner war, dem ich bestimmt treu geblieben wäre, weil ich mir einen solchen immer gewünscht hatte, nur er und ich, ich und mein Papa. Auf dem Hochsitz und bis ans Ende der Welt, und wenn er Traktor gefahren wäre oder Medaillen beim Schwimmen gewonnen hätte, ich wäre ihm gefolgt, egal, was, seine Tochter.
Die Walli und ihr Papa. Das war viel zu nah, viel zu eng, da musste sie doch zu den grünen Vegetariern. Aber warum war sie nicht zurückgekehrt zu ihm? Weil sie noch zu jung war? Noch nicht lang genug weg von daheim? Walli schien pappsatt, papasatt geworden zu sein. Welche Tochter konnte das von sich behaupten?
»Wo ist eigentlich Ihre Frau?«, fragte ich.
»Verreist«, sagte Franz Brandl und schnitt in einen blutverschmierten, zerfetzten Schwamm, hielt ihn mir unter die Nase mit seinen blutigen Händen. »Lungenschuss«, sagte er, stach in den Schwamm und nickte. »Gesund.«
Er drehte den Bock auf die Seite und deutete auf ein kleines Löchlein. »Da schau, Madel, da is der Schuss eini gangen und da«, er drehte den Bock, »is die Kugel aussi gangen.« Das Loch am Austrittsort der Kugel war größer. Wie auf den Fotos, die ich vor hundert Jahren, so kam es mir vor, in der Wohnung von Felix
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