Sonst kommt dich der Jäger holen
man war zu viel allein, wenn man ausnahmsweise mal einen halben Tag Zeit hatte. Man sollte mal wieder unter Leute gehen. Man sollte so viel.
Felix setzte sich auf den rot lackierten Biergartenstuhl, den der Vormieter ihm überlassen hatte, legte die Füße auf die Brüstung und den Kopf in den Nacken. Blickte dem Rauch nach, der vom lauen Nachtwind verwirbelt wurde und unter dem Dach verschwand. Das Zucken eines Blaulichts. Ein Notarztwagen, vielleicht eine Geburt, vorne an der Ecke befand sich die Uni-Frauenklinik Maistraße. Da war auch Sinah zur Welt gekommen. Übermorgen vor drei Jahren. Prinzessin Lilifee war bereits als Geschenk eingepackt. Nein, das mach ich selber, hatte er abgelehnt, als die Verkäuferin im Spielwarengeschäft es angeboten hatte.
Er hatte körperlich schmerzende Sehnsucht nach seiner Tochter. Ihrem Duft. Ihrer weichen Haut. Ihren blauen Augen. Ihrer Stimme. Ihren Geschichten. Wenn sie Schweinchen spielte und in sein Ohr grunzte. Ihr müdes Gesicht nach dem Mittagsschlaf. Wenn er sie hoch in die Luft werfen sollte, ihr Lachen und ihr Vertrauen: Papa fang mich auf! Den gestrigen Nachmittag hatten sie zusammen verbracht. Eigentlich hätte Felix sie über Nacht behalten sollen. Doch dann war Melanie etwas dazwischengekommen. Er widersprach nicht mehr. Sonst wurde es noch schlimmer. Er nahm, was er kriegen konnte, und sei es eine halbe Stunde, um sie vom Kindergarten abzuholen. Danach war es immer besonders grausam. Bei jedem Wiedersehen riss die Wunde auf. Sie heilte nie, denn schon wieder begann das Spiel von vorne. Scheißspiel. Manchmal war die Sehnsucht kaum auszuhalten. Jetzt zum Beispiel. Es war viel zu spät um anzurufen, und es ging ja immer erst Melanie ans Telefon. Sie hatte meistens neue Erkenntnisse, die stets gleich klangen. Sein Beruf war schuld an allem, und wenn Sinah dann an den Apparat kam, konnte er nicht mehr das sagen, was er sagen wollte, weil er sich geärgert hatte. Nein, er liebte seinen Beruf nicht mehr als seine Tochter, auch wenn er öfter in der Arbeit als daheim gewesen war. Er liebte seinen Beruf überhaupt nicht. Aber es befriedigte ihn zutiefst, wenn er gelegentlich das Gefühl hatte, eine Art Gleichgewicht herzustellen, obwohl er wusste, dass er ein Unrecht, das vom K1 bearbeitet wurde, niemals wieder gutmachen konnte.
Morgen ganz früh ruf ich an, noch vor dem Kindergarten, nahm Felix sich vor und wusste insgeheim, dass er es nicht tun würde. Du weißt doch, dass wir morgens keine Zeit zum Telefonieren haben. So lief das Spiel. Scheißspiel. Scheißfall. Scheißrauchen. Er drückte die Zigarette aus, stand auf und schaute die Straße entlang, wie von selbst glitt sein Blick nach rechts, in Richtung Sendlinger Tor und dahin, wo Franza wohnte, in die Au. Au. Was sollte man sonst auch erwarten, dachte Felix.
21
Wie zu erwarten war Johannes am Montagmorgen um acht Uhr im Büro. Felix wusste nicht, ob ihm das gefiel. Wie zu erwarten war der Kaffee des neuen Mitarbeiters zu stark. Am Anfang übertrieben sie es immer, aber es war gut gemeint, wie alles an diesem jungen Mann von der SchuPo. Kurz vor zehn kam Franz Brandl, Laura hatte ihn einbestellt. Felix überließ Johannes das Reden, aber Franz Brandl sagte nichts Neues. Er habe urplötzlich keine Lust auf die Jagd gehabt.
»Laut unseren Informationen ist so etwas noch nie vorgekommen.«
»Menschen sind nicht immer gleich.«
»Sie gelten als überaus zuverlässig.«
»Man kann zuverlässig anderen gegenüber sein und zuverlässig sich selbst gegenüber. Und außerdem war das Wetter so schön.«
»Zu schön für die Jagd, geht das?«
»Freilich.«
»Sie haben also einer plötzlichen Eingebung folgend Ihr Amt als Jagdleiter sausen lassen und sind stattdessen mit Ihrem Hund spazieren gegangen.«
»Mit dem Hallodri, ja.«
»Gibt es dafür Zeugen?«
»Glauben Sie, die wachsen irgendwo aus dem Boden, wenn Sie mich nur oft genug fragen?«
»Zeugen?«
»Der Hallodri.«
»Und wo genau sind Sie spazieren gegangen?«
»Des weiß ich heut nimmer.«
»Es ist aber wichtig.«
»Schauen Sie, ich könnt Ihnen jetzt irgendwas erzählen, wo ich gewesen wär, aber wenn ich doch nicht weiß, ob ich da war, wo ich gesagt hätte. Man will doch die Polizei nicht anlügen, ned wahr? Wenn Sie jeden Tag mit dem Hund gehen und ihm eine Abwechslung bieten wollen, dann erinnern Sie sich auch nicht mehr. Freilich könnte es sein, dass ich Ihnen jetzt was sag, aus dem Stegreif praktisch, und dass ich dann da tatsächlich war,
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