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Eine Transfer- und Haftungsunion bedarf neuer politischer Institutionen, die Nationalstaaten müssten einen wichtigen Teil ihrer Zuständigkeiten nach Brüssel abgeben. Einige Politiker freunden sich gerade mit dieser Idee an, sie reden von einer Wirtschaftsregierung oder sogar von den Vereinigten Staaten von Europa, ohne zu sagen, was damit konkret gemeint ist.
Wahrscheinlicher ist der zweite Weg, einfacher wird er nicht, billiger möglicherweise auch nicht. Zunächst müsste eine Brandmauer errichtet werden zwischen den Staaten, die – wie Griechenland – tatsächlich insolvent sind und keine Chance haben, ihre Schulden jemals zurückzuzahlen. Und anderen, die nur ein kurzfristiges Liquiditätsproblem haben. Dann müssten die Banken mit staatlichem Geld versorgt werden, damit das Finanzsystem nicht kollabiert, wenn die Geldhäuser einen Teil der Staatsanleihen in ihren Bilanzen abschreiben müssen. Schließlich müssten die Aussteiger weiter gestützt werden, denn Europa kann nicht einfach zusehen, wenn Länder wie Griechenland im Chaos versinken.
Horst Reichenbach wird also in jedem Fall gebraucht, der Leiter der EU-Task-Force zieht bei seiner ersten Tour durch die Athener Ministerbüros in eine Schlacht gegen zwei Jahrzehnte Misswirtschaft, hundert Jahre Langsamkeit und den Stolz auf 3000 Jahre Geschichte. Mathematiker ist Reichenbach, Ökonom auch und ein Technokrat mit jahrzehntelanger Erfahrung in der Brüsseler Bürokratie, insgesamt ein wohltemperierter Herr mit einer Ausstrahlung von äußerster fachlicher wie ästhetischer Strenge. Ein Abgesandter aus einer anderen Zeitzone, ein Abgesandter aus der Zukunft.
Reichenbach resümiert, während er vor einem Aufzug wartet, er fühle sich "überall äußerst willkommen", und er erklärt sich das damit, dass er ja der "good guy" sei in diesem Spiel, während die Vertreter der sogenannten Troika, bestehend aus EU-Kommission, Internationalem Währungsfonds und Europäischer Zentralbank, die über die Einhaltung der Auflagen wachen, in Griechenland "mit weniger Wohlwollen" betrachtet würden.
Wenn er durch Athen fährt, sieht die Stadt vor den getönten Scheiben seines dunkelblauen Renault Espace wie eine dynamische europäische Metropole aus: Der Wagen der Task Force kommt schnell voran, weil 15 000 streikende Taxifahrer von den Straßen verschwunden sind in diesen Tagen.
Einmal gerät das Auto ins Stocken, die Gegenfahrbahn ist abgesperrt. Langsam zieht Reichenbachs Renault vorbei an einem lichterloh brennenden Auto vor der US-Botschaft. Reichenbach sagt "Ups!", schaut aus dem Fenster, dann stellt er fest: "Das sieht nicht ungefährlich aus."
Veröffentlicht in DER SPIEGEL 39/2011
Die SPIEGEL-Redakteurin Kerstin Kullmann wurde mit dem Journalistinnen-Preis des Frauenmagazins "Emma" ausgezeichnet.
Der neue Schatz
Noch nie hatten Ministerinnen in Deutschland so viel Einfluss wie in Angela Merkels Kabinett. Wie gehen die Frauen mit ihrer Macht um?
Jeden Mittwoch betreten ein Dutzend Fotografen und Kameraleute den Kabinettssaal in Berlin. Ein paar Minuten vor Beginn der Sitzung dürfen sie dort Bilder machen. Vom Reinkommen, Händeschütteln, Hinsetzen der Minister. Es werden die Bilder des Tages, oft sieht man sie abends in den Nachrichten.
In diesem Saal, berichten Fotografen, hätten sie vor kurzem eine neue Geste entdeckt. Kurz, zart, zu überraschend, um sie zu fotografieren. Aber sie haben jetzt schon einen Namen dafür. Sie nennen sie: "Mach dir keine Sorgen, Schätzchen". Die neue Geste geht so: Ursula von der Leyen betritt den Raum. Meistens kommt sie nicht allein. Sie wartet draußen vor der Tür auf einen Kollegen, oft ist es jemand, mit dem sie später am Tag noch zu tun haben wird. An einem Morgen im November ist es FDP-Mann Daniel Bahr. Die beiden stellen sich vor das große Gemälde an der Stirnseite des Saals, das Licht ist dort gut. Die Fotografen halten ihre Kameras bereit.
Ursula von der Leyen liefert mehrere Gesichtsausdrücke: Lachen, Ernst-Gucken, Staunen. Plötzlich hebt sie den Arm, senkt die Hand und lässt ihre Finger über den Unterarm ihres Gesprächspartners gleiten. Die Geste sagt: "Mach dir keine Sorgen, Schätzchen". Daniel Bahr ist das Schätzchen des Tages.
Die Frauen haben sich das Kabinett erobert, die Zeit des Breitbeinigen ist vorbei. Angela Merkel regiert das Land nicht in kleiner Runde, bei Zigarre und Rotwein, wie es noch ihr Vorgänger Gerhard Schröder tat. Um sich herum hat sie Männer
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