St. Leger 03 - Die Nacht der Feuerfrau
verstanden sie sich besser als je zuvor. Rafe ertappte sich immer öfter dabei, wie er Corinnes Züge betrachtete und dabei eine merkwürdige Sehnsucht verspürte. Überhaupt hatte er in den letzten vier Wochen gelernt, dass weibliche Gesellschaft einem auch andere Freuden als nur die fleischlichen schenken konnte. »Wie ist das, Mr. Moore?« Charley zupfte ihn am Ärmel und zeigte ihm das verknotete Seil. »Schon sehr gut, mein Junge, aber da ist dir ein kleiner Fehler unterlaufen.« Mit einer Geduld, die er sich selbst nicht zugetraut hatte, entwirrte er das Seil und zeigte dem Jungen, wie er es besser machte.
Und tatsächlich klappte es beim nächsten Mal. Rafe hatte während seiner Seereisen etliche Schiffsjungen erlebt, einige auch jünger als Charley, die sich beim Knotenbinden geschickter anstellten. Aber der Eifer dieses Knaben erfüllte ihn mit einem Stolz, den Mortmain sich selbst nicht erklären konnte.
Plötzlich hielt der Junge mitten im Knoten inne. »Ich ... würde es Euch etwas ausmachen, wenn ich Euch Onkel Rafe nenne?« »Nur zu.«
»Und würde es Euch sehr stören, wenn ich Euch duze?« »Du kannst mich nennen, wie immer du magst.« »Am allerliebsten würde ich Papa zu dir sagen.« Rafe zog es die Kehle zusammen, denn den sehnsüchtigen Blick des Jungen kannte er viel zu gut von sich selbst. Aber er wusste auch, dass er keine falschen Hoffnungen erwecken durfte.
»Das halte ich für keine gute Idee, Charley.«
»Mama hat gesagt, du bist Seemann und wirst bald wieder das Meer befahren.«
»Da hat sie wohl Recht.« Er selbst war noch trauriger als der Junge. »Aber wir wollen jetzt nicht Trübsal blasen und uns lieber weiter mit den Seemannsknoten beschäftigen, ja?«
Rafe hatte noch immer nichts für die beiden gefunden, wo sie in Zukunft Auskommen und Heimstatt haben würden. Und mit jedem neuen Tag fiel es ihm schwerer, sie zu verlassen.
Irgendwann hatte Charley genug davon, Knoten zu üben und lief über den Strand, um eine große Schildkröte zu beobachten. Der Junge trat das Tier nicht und stieß es auch nicht an, um es umzukippen, wie das andere Gleichaltrige getan hätten. Nein, Charley beobachtete die schwerfälligen Bewegungen des Tiers mit Neugier und Interesse.
Rafe lächelte und sagte sich, dass der Junge ihm ziemlich ans Herz gewachsen war.
Corrine kam auf ihn zugeschlendert, hob das Seil mit dem halb fertigen Knoten auf und fragte lachend: »Habt Ihr wieder versucht, einen Matrosen aus meinem Sohn zu machen?«
»Darüber braucht Ihr Euch keine Sorgen zu machen. Viel eher wird Charley Pferdeknecht oder etwas in der Art. Er liebt die Tiere wirklich sehr.«
»Das hat er wohl von mir. Ich könnte mich als Junge verkleiden und mit ihm zusammen in einem großen Stall arbeiten.«
Rafe wollte über ihre Bemerkung lachen, aber in der letzten Zeit spielte sie häufiger darauf an, sich eine Arbeit suchen zu wollen. Und das gefiel ihm überhaupt nicht. »Wird langsam kalt. Vielleicht war es doch keine so gute Idee, an einem Tag wie heute ans Meer zu gehen.« Er legte die Arme auf den Rücken, weil er schon wieder Lust bekam, sie in den Arm zu nehmen. »Oh, doch. Charley und ich haben ihn sehr genossen. Und wer weiß, wie viel Zeit uns noch bleibt, bis ... bis ...« Sie musste den Satz nicht beenden. Mortmain wusste auch so, dass sie den unvermeidlichen Moment meinte, an dem sich ihre Wege trennen würden. Corrine spürte, dass sie bei ihm Unbehagen ausgelöst hatte, und überspielte das mit der Ankündigung, Charley zu holen, der ziemlich weit hinter der Schildkröte hergelaufen war.
Rafe bot ihr seinen Arm an, und nach einem Moment hakte sie sich bei ihm ein. Zum ersten Mal seit jener Nacht berührten sie sich wieder.
Gemeinsam spazierten sie über den Strand. Rafe genoss das Beisammensein mit ihr sehr, bis sie fragte:
»Ihr vermisst es wohl sehr, das Meer, was?« »Naja, nicht unbedingt -«
»Versucht gar nicht erst, das in Abrede zu stellen. Ich kenne doch die Seeleute. Schließlich war ich mit einem verheiratet. Die haben alle Salzwasser in den Adern.« »Solange das Meer nicht allzu weit weg ist, lässt es sich aushalten.«
»Aber nicht auf Dauer ... Rafe, Ihr wart sehr gut zu mir und Charley, aber wir dürfen Eure Freundlichkeit nicht über Gebühr in Anspruch nehmen.« »Verdammt, Corrine, das haben wir doch schon hundertmal besprochen.«
»Aber noch zu keiner Lösung gefunden. Wir halten Euch schon viel zu lange hier in Falmouth fest.« »Na ja, ich habe da eine Idee,
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