Stachel der Erinnerung
diese üble Spelunke. Und da ich nichts Besseres zu
tun hatte, habe ich ihn begleitet.«
Matt
schwieg.
»Ich denke,
du wirst mir sicher nicht verraten, warum deine Frau und ihre Freundin dort
waren.«
Stricklands
Blick wanderte zu dem Mädchen im Garten, das sich gerade mit Jessie unterhielt.
»Lady Gwendolyn denkt, sie sei Schriftstellerin. Sie möchte ein Buch schreiben,
und um das tun zu können, braucht sie Lebenserfahrung – glaubt sie zumindest.
Jessie ist mit ihr gegangen, um sie eventuell beschützen zu können.«
Adam
grinste, kleine Grübchen bildeten sich dabei in seinen Wangen. »Und du bist
herbeigeeilt, um die beiden zu retten. Ich kann mir allerdings vorstellen,
nachdem du sie ›befreit‹ hast, warst du an diesem Abend die größte
Bedrohung für die beiden.«
Matthew
lachte und entspannte sich ein wenig. »Das ist schon möglich. Am liebsten hätte
ich ihnen beiden den Hals umgedreht.« Sein Lächeln erlosch wieder.
»Offensichtlich benimmt sich Waring seiner Stieftochter gegenüber sehr rüde,
wenn nicht sogar gewalttätig. Das ist auch der Grund dafür, daß Jessica sich so
um ihre Freundin sorgt.« Er warf Adam einen warnenden Blick zu. »Ich habe
schon mehr gesagt, als ich eigentlich sollte, aber ich wollte, daß du Bescheid
weißt, und ich vertraue auf deine Diskretion. Laß das Mädchen in Ruhe, Adam.
Sie hat schon mehr Schwierigkeiten, als sie bewältigen kann.«
Adam
antwortete nicht. Sein Blick heftete sich erneut auf das bezaubernde Mädchen
mit dem dunklen Haar. Sie lachte gerade über etwas, das Jessica gesagt hatte.
Es war ein helles, klares Lachen. Das Bild von ihr in Männerkleidung schob
sich vor Adams inneres Auge. Er sah ihr glänzendes, lockiges Haar, das unter
ihrem übergroßen Hut hervorlugte.
Was für
eine Frau würde ihren Ruf aufs Spiel setzen, nur um zu wissen, wie es an solch
einem Ort aussah? Eine interessante Frau, das war sicher. Nun war seine Neugier
endgültig geweckt. Er war entschlossen, ihr vorgestellt zu werden. Er bahnte
sich einen Weg durch die Menge der Gäste die Treppe hinunter in den Garten,
dorthin, wo eine gewisse Dame neben Gräfin Strickland stand.
17
Jessie beobachtete, wie der
hochgewachsene, attraktive Vicomte St. Cere auf sie zukam. Mit seinem
eleganten Aussehen und den grauen Augen unter den vollen, dunklen Haaren sandte
St. Cere eine gewisse Distanziertheit aus, eine gefährlich wirkende
Undurchschaubarkeit, die Jessie von Anfang an ein wenig eingeschüchtert hatte.
»Lady
Strickland.« Er beugte sich höflich über ihre Hand. »Lord St. Cere ... Matthew
und ich waren sehr glücklich, daß Ihr kommen konntet.«
»Wenn Ihr
Euch freut, daß ich hier bin, dann habe ich wohl doch etwas richtig gemacht,
als ich ihn an jenem Morgen zur St. James Cathedral gefahren habe.«
Jessies
Augen weiteten sich. »Ihr wart das also, der ihn dazu ermutigt hat.« Sie
lächelte ihm verschmitzt zu. »Dafür werde ich Euch ewig dankbar sein, Mylord.«
Der Vicomte erwiderte ihr Lächeln, und Jessie überlegte, daß es wohl doch noch
eine andere Seite an ihm gab, die nicht so fordernd und anmaßend war, wie sie
das kannte. Sie wandte sich Gwen zu, die nervös neben ihr stand.
»Ich
glaube, ihr beide kennt euch noch nicht«, sagte sie und stellte sie einander
vor.
»Es ist mir
ein Vergnügen, Mylady.« Der Vicomte beugte sich galant über Gwens Hand.
Gwen
lächelte. Sie konstatierte mit einem Blick seine elegante Kleidung, das dichte,
schwarze, leicht lockige Haar, und ihre Augen blitzten so anerkennend auf, daß
es Jessie nervös machte.
»Unsere
Gastgeber haben ein wundervolles Frühstück bereitgestellt«, wandte sich St.
Cere an Gwen. »Wenn Ihr hungrig seid, Mylady, würdet Ihr mir
liebenswürdigerweise Gesellschaft leisten?«
Sie senkte
einen Moment die Wimpern, und leichte Röte überhauchte ihre Wangen. »Mit
Vergnügen, Mylord.«
Jessie
gefiel das jedoch ganz und gar nicht.
Gütiger
Himmel – St. Cere war der schlimmste Wüstling in ganz London, ein gewissenloser
Kerl, der die Hälfte der Frauen der Gesellschaft verführt hatte. Gwen war so
jung, sie war intelligent und ließ sich nicht schnell etwas vorgaukeln. Doch
sie war auch entschlossen, soviel wie möglich vom ›wahren Leben‹ zu
erfahren, und Jessie war nicht sicher, wie weit sie dabei gehen würde.
Sie mußte
allerdings zugeben, daß die beiden ein gutaussehendes Paar waren, beide mit
dunklem Haar, Gwen so zierlich und der Vicomte so groß. Aber zusammenpassen
taten sie auf keinen
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