Stachel der Erinnerung
einmal ihm gehören. Sein Vater
konnte es kaum erwarten, ihm alles zu übergeben. Wäre nicht die Verpflichtung
den Männern von der Norwich gegenüber gewesen,
so hätte er sofort das anstrengende Leben auf See aufgegeben. Er war bereit
für eine neue Herausforderung.
Zufrieden
mit dem, was er gesehen hatte, lenkte Matthew sein Pferd zurück nach Belmore.
Nur noch einmal würde er absitzen, dann würde er nach Hause zurückreiten.
Die Sonne
stand tief am klaren, blauen Nachmittagshimmel, als er von seinem großen
Wallach abstieg und die Zügel an den Ast einer Erle neben der Tür der alten
Remise band. Mit großen Schritten ging er zum Eingang. Die Muskeln in seinen
Beinen schmerzten ein wenig von den ungewohnt langen Stunden im Sattel.
Durch eine
Lücke in den Bäumen hatte er das alte leerstehende Haus am Vormittag entdeckt.
Es war einer der Lieblingsplätze seiner Kindheit gewesen. Er und Richard
hatten oft oben auf dem Boden der Remise gespielt. Sie hatten mit ihren
selbstgeschnitzten hölzernen Schwertern gekämpft und sich Abenteuergeschichten
ausgedacht. Dort oben hatte er die kostbarsten Besitztümer seiner Kindheit
versteckt – seine Muschelsammlung, ein Gedicht, das er selbst verfaßt hatte,
sein Lieblingsbuch mit Geschichten, die sein Vater ihm vorlas, ehe er ins Bett
ging. Er hatte sich gefragt, ob das alles wohl noch dort war.
Er
lächelte, als er den Fingerhut und die Butterblumen entdeckte, die noch immer
neben dem Eingang blühten. Dann stieß er die schwere Tür auf. Er hatte
erwartet, daß sie in den Angeln quietschte und daß er sich einen Weg durch
Spinnweben in einen dunklen, staubigen Raum würde bahnen müssen. Doch der
Anblick, den er nun vor sich hatte, ließ ihn verdutzt innehalten.
Jessica Fox
sprang hinter ihrem Pult auf. Ihre Augen waren vor Schreck über den
unerwarteten Besucher weit aufgerissen. »Lord Strickland!« krächzte sie.
Er sah sich
sechs zarten Kindergesichtern gegenüber, die ihn neugierig betrachteten.
»Mistrens Fox. Wieder einmal ist es Euch gelungen, mich zu überraschen.« Und
wieder einmal fühlte er diese eigenartige Erleichterung. Jessie Fox war, wie es
schien, doch nicht bei ihrem Geliebten.
Sie
bedachte ihn mit einem kühlen Lächeln. »Kinder«, sagte sie. »Wir waren gerade
fertig, als Lord Strickland eintrat. Nehmt eure Lesebücher mit nach Hause. Wir
sehen uns dann alle morgen wieder.«
Zu seiner
Verwunderung erhob sich ein unwilliges Murmeln, als wollten die Kinder noch gar
nicht gehen. Folgsam packten sie jedoch ihre Sachen zusammen – die geflickten
Jacken, die Wollmützen, die Handschuhe und die Lesebücher. Dann schoben sie
sich an Matt vorbei und verließen den Raum.
Jessie Fox
blieb hinter ihrem Pult stehen. Sie hatte das Kinn gereckt und spannte die
Schultern an, als wäre sie mit einem Feind konfrontiert. In ihrem hellen gelben
Kleid, mit dem Sonnenlicht auf ihrem goldenen Haar, war sie die bezauberndste
Frau, der Matt je begegnet war.
Heiß stieg
das Verlangen in ihm auf, es pulsierte in seinen Lenden. Zwei Jahre auf See
hatten ihren Tribut gefordert. Die Nächte mit der kleinen Rothaarigen in
Portsmouth waren bei weitem nicht genug gewesen.
Doch
vielleicht lag das ja auch nur an Jessie Fox.
Als er auf
sie zuging, war er bemüht, die Reaktionen seines Körpers unter Kontrolle zu
halten.
»Ich denke
nicht ... ich nehme an, Ihr seid hiermit nicht einverstanden«, begann sie
trotzig und deutete auf die kleinen Tische und Bänke. »Die meisten Leute Eurer
Art sind dagegen.« Ihre Brüste hoben sich heftig bei jedem Atemzug. Am liebsten
hätte er seine Hände draufgelegt.
»Meiner
Art?« wiederholte er. »Ihr meint wohl die Aristokratie, Miss Fox?
Jessie
leckte sich nervös über die Lippen, und wieder fühlte er dieses Ziehen in
seinen Lenden. Was immer sie war oder gewesen war, Jessica Fox war auf jeden
Fall eine wunderschöne, sinnliche Frau. Auch wenn ihm diese Erkenntnis
überhaupt nicht gefiel, mußte Matthew zugeben, daß er sie in seinem Bett haben
wollte.
»Nicht alle
Aristokraten«, betonte sie. »Männer wie Euer Vater nicht. Die anderen glauben,
daß Kinder aus den unteren Ständen bleiben sollten, wo sie hingehören. Armut
und Unwissenheit garantieren billige Arbeitskräfte für diejenigen, die über
ihnen stehen. Und es besteht nach wie vor die Meinung, daß die Armen, wenn man
ihnen eine Bildung zukommen läßt, umgehend eine Revolution anzetteln werden.«
Er kam um
das Pult herum. »Ah, ja. So, wie es in Frankreich
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