Stachelzart
bisschen Glück würde ich ein paar schöne Pfifferlinge oder Waldchampignons finden. Und vielleicht auch einige Steinpilze.
Ein kleiner Pfad schlängelte sich oberhalb der Parkbank durch einen Fichtenwald weiter den Berg hinauf. Hier würde ich mit meiner Suche beginnen.
Eine Stunde später war mein Korb bereits gut gefüllt. Der Fichtenwald erwies sich als wahres Pilzparadies. Während meiner Suche war ich langsam immer weiter bergauf gewandert. Ich musste den Berggipfel schon fast erreicht haben. Zwischen zwei Baumwurzeln sah ich einen richtig schönen großen Steinpilz wachsen. Ich wollte mich gerade bücken, um ihn zu pflücken, als plötzlich hinter mir jemand flüsterte: „Pst, nicht bewegen!“
Vor lauter Schreck fiel mir der Korb aus der Hand und die Pilze kullerten wild durcheinander über den Waldboden. Auch mein Schreibblock, den ich ganz unten in den Korb gelegt hatte, fiel hinaus und landete auf dem Boden.
Ganz langsam und vorsichtig drehte ich mich zu der Stimme um.
Ich hatte eigentlich gedacht, dass mich nach dem Erdrutsch, Veras Ohnmachtsanfall, der Begegnung mit Kay König, dem Stromausfall und dem hinterhältigen Angriff durch Sams Ziege nichts mehr aus den Socken heben würde, aber der Anblick des Typen, der vor mir stand, war absolut überraschend. Er trug Hose und T-Shirt in einem Tarnfarben-Muster und auf seinem blonden Schopf saß ein olivgrünes Käppi. Sein Gesicht war sonnengegerbt mit winzig kleinen Fältchen um die Augen. Er sah aus wie jemand, der viel Zeit in der freien Natur verbrachte. Er wirkte schlank und trainiert, war aber nicht so groß und muskulös wie Kay König. Sein Alter war schwer zu schätzen. Vielleicht Anfang vierzig? , überlegte ich. Ein bisschen ähnelte der Mann einem dieser Ranger, aus den amerikanischen TV-Serien, nur viel weniger dominant. Er wirkte eher verwirrt. Seine braunen Augen fixierten den Baum hinter mir.
„So ein Mist, jetzt ist er weggeflogen“, schimpfte er.
Wer ist das und wo zum Teufel kommt er her , fragte ich mich.
Laut Sam sollten außer Kay, Vera und mir doch niemand mehr an diesem Ort sein.
„Zu schade“, seufzte der verwirrte Ranger nun. „Ich hätte zu gerne ein Foto gemacht. Sie haben ihn erschreckt!“ Vorwurfsvoll sah er mich an.
„Und Sie haben mich erschreckt“, erwiderte ich.
Der Mann sah noch einmal zu dem Baum hinüber, dann schüttelte er bedauernd den Kopf. Schließlich wandte er sich mir zu: „Ich bin Henri. Henri Schmidt, Ornithologe. Auf dem Baum dort saß eben noch eine Felsenschwalbe, aber jetzt ist sie weggeflogen.“
Was zum Kuckuck ist denn ein Ornithologe , fragte ich mich. Vielleicht ein Vogelforscher?
Ich erinnerte mich dunkel daran den Begriff schon einmal gehört zu haben. Hielt sich dieser Henri etwa schon die ganze Zeit auf der Vogelstation auf, von der Sam mir erzählt hatte? Ich beschloss mich auch erst einmal vorzustellen und dann weiter zu fragen.
„Anna, Anna Schneider, momentan Pilzsucherin. Dort drüben war vorhin noch ein Steinpilz, aber jetzt ist er vor Schreck weggerollt!“, erwiderte ich schlagfertig. Nun hatte ich das erste Mal Henris volle Aufmerksamkeit. Sein eben noch umhersuchender Blick blieb an mir hängen.
„Sie sind aber nicht auf den Mund gefallen“, lachte er. „Entschuldigung, ich wollte Sie wirklich nicht erschrecken. Aber ich war dieses Mal so nah dran. Ich beobachte die Felsenschwalbe schon seit gestern. Sie ist in dieser Gegend extrem selten und leider sehr scheu.“
„Sie sind also ein Vogelforscher? Wohnen Sie in der Vogelstation auf dem Gipfel?“, erkundigte ich mich.
„Ja, ich bin letzten Mittwoch angekommen. Dummerweise fing es dann am Freitag an zu regnen und ich konnte keine Vögel beobachten. Aber seit gestern ist das Wetter ja wieder gut und da habe ich die Felsenschwalbe entdeckt. Und Sie? Was machen Sie hier oben? Sind Sie ein Gast von Herrn Wagner? Normalerweise verirrt sich nämlich niemand hier hoch.“
„Du kennst Sam?“ Automatisch war ich zum 'Du' übergegangen.
„Ja, natürlich. Ich war schon ein paar Mal auf dieser Station und habe an seiner Hütte immer angehalten, um einen Kaffee mit ihm zu trinken. Ein sehr netter Mensch. Ich habe auch dieses Mal auf dem Hinweg bei ihm angeklopft, aber er war nicht da. Vielleicht war er jagen oder spazieren oder so. Ich hatte mir vorgenommen auf dem Rückweg noch einmal bei ihm vorbei zu schauen. Ich mache immer ganz gerne eine kurze Rast bei ihm, denn zu der Station kommt man von seiner
Weitere Kostenlose Bücher