Steels Duell: Historischer Roman (German Edition)
dass es noch ein paar andere Zivilisten in die Kasematten geschafft hatten. Inzwischen mochten es ein Dutzend Bewohner Ostendes sein. Der Major wandte sich der Frau zu und wischte ihr sacht durchs Gesicht. Dann sah er ihr in die Augen und betete mit einem Mal zu einem Gott, von dem er sich in seiner Verbitterung seit Langem abgewandt hatte. Er betete, im Gesicht dieser Fremden das Lächeln seiner Frau zu finden. Aber es war nicht seine Marie, würde es nie sein können.
Die Frau starrte ihn an. »Habt Dank. Ich danke Euch, Monsieur.« Sie zitterte noch am ganzen Leib und krallte ihre Finger in den Körper des toten Kindes, als leugnete sie beharrlich die schreckliche Gewissheit. »Danke, Ihr habt uns gerettet. Danke, dass Ihr meine Söhne gerettet habt.«
Malbec starrte sie stumm an.
»Monsieur?«
Sie hatte ein hübsches Gesicht, blaue Augen, dunkles Haar. Sein Blick wanderte zu den Jungen. Der eine, der etwa acht Jahre sein mochte, hatte blonde Locken, der andere, der tot in ihren Armen lag, glatte dunkle Haare. Wie sein eigener Junge. Aber wie alt wären seine Kinder jetzt? Achtzehn und zwanzig. Erwachsene Männer. Und wenn sie noch lebten – wenn Marie noch am Leben wäre –, was würden sie alle heute machen?
»Monsieur, geht es Euch gut?«
Lieutenant Lejeune stand neben ihm, und erst da wurde Malbec bewusst, dass er Tränen in den Augen hatte.
»Ich … oh, ja, Lieutenant. Alles in Ordnung. Ist der verdammte Staub.« Der Major zog sein Taschentuch aus der Weste und tupfte sich die Augen trocken. »Kann kaum was sehen bei diesem Staub.« Dann taumelte er zu einem Stuhl und setzte sich schwerfällig. »Ich dachte … ich fragte mich bloß …«
Er hielt inne. In seinem Kopf schien eine dumpfe Trommel zu schlagen, während von irgendwoher eine dünne Stimme zu ihm rief. Oh, Gott, dachte er. Was habe ich getan? Marie, vergib mir.
Er wandte sich an den Lieutenant. »Rasch, öffnet die Tür. Lasst so viele herein, wie wir aufnehmen können.«
Lejeune blickte ihn verdutzt an. »Aber, Monsieur …«
»Das ist ein Befehl, Lieutenant. Öffnet die Tür und lasst die Leute herein. Helft ihm, Müller, ehe ich’s mir anders überlege. Ihr anderen auch, los!«
In Malbecs Kopf arbeitete es. Und dann, bevor Lejeune und der Sergeant bei der Tür waren, wusste er, was zu tun war. Ja, er glaubte zu wissen, wie er den Kanonenbeschuss aufhalten könnte.
Inzwischen drängten sich etwa dreißig Leute in dem unterirdischen Raum. Malbec sah, wie sie alle hereinkamen, einige schlimm verletzt, andere weitestgehend unversehrt.
»Gut, das genügt. Schließt die Tür wieder. Mehr geht nicht.«
Der Raum war nun voller Verwundeter und Sterbender, und der Gestank, dem selbst die Belüftungsanlage nicht gewachsen war, rief Übelkeit bei Malbec hervor. Schweiß und Blut vermischten sich mit Salpeter und Pulverdampf zu einem einzigen ätzenden Dunst. Sofort kümmerten die französischen Soldaten sich um die Verwundeten.
Malbec suchte den Blick seines Sergeants. »Müller, ich will, dass Ihr und der Lieutenant den Gouverneur sucht. Ihr müsstet ihn in der Kasematte Nummer 5 finden. Das ist der Schutzraum bei der Lanthorn-Bastion, von hier aus auf der anderen Seite der Stadt, hinter dem Rathaus. Wenn Ihr ihn gefunden habt, bringt Ihr ihn unverzüglich hierher. So schnell wie möglich. Lasst Euch nicht darauf ein, wenn er sich weigern sollte. Droht ihm Gewalt an, falls nötig. Es herrscht nun das Kriegsrecht. Und sorgt dafür, dass auch diese Engländerin mitkommt – sie ist gewiss in seiner Nähe, weil er sie nicht aus den Augen lässt. Bringt beide zu mir. Los jetzt, Mann. Und gebt acht da draußen!«
Der Sergeant eilte zu Lejeune, und nachdem die beiden sich kurz besprochen hatten, verließen sie die Kasematte. Malbec nahm einen langen Schluck von dem staubigen Wein und blickte erneut auf die Mutter mit ihren beiden Söhnen. Und während er die saure, mit Erdkrumen vermischte Flüssigkeit trank, lehnte er sich auf dem Stuhl zurück und lauschte auf die entsetzlichen Klänge, die von Ostendes Leiden erzählten.
***
Steel fragte sich derweil, wie lange dieser Feuerhagel noch andauern mochte. Wie viel konnten die Menschen in der Stadt noch ertragen? Seit drei Stunden feuerten die Kanonen nun schon, und immer noch spien die Mörser ihre tödlichen Ladungen auf die Stadt, während die Läufe der regulären Kanonen bereits so glühend heiß waren, dass die Geschützmannschaften sie mit Schwämmen kühlen mussten. Hinter den
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