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Steinhauer, Franziska

Steinhauer, Franziska

Titel: Steinhauer, Franziska Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Angst
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nichts!“, behauptete Jakob mit bemerkenswerter Halsstarrigkeit.
    Helene saß dick eingemummelt hinter dem Haus.
    Hier war schon früher ihr Lieblingsplatz gewesen. Unter der knorrigen Birne, deren Früchte so hart waren, dass man sie nicht essen konnte, die sich beim Spielen aber gut als Währung geeignet hatten, stand noch immer die Holzbank aus lackiertem Lärchenholz.
    „Helene?“
    Es war zu spät, sich zu verstecken!
    Das Mädchen riss panisch den Kopf herum, sie hatte niemanden kommen hören, und auch die Hunde hatten nicht angeschlagen! Am Gartenzaun lehnte eine Frau und lächeltefreundlich. Dunkle Haare, so lockig, wie Helene sie noch bei keinem Menschen gesehen hatte, wippten fröhlich um das runde Gesicht.
    „Ich bin Amalia. Du brauchst dich nicht vor mir zu fürchten. Und du bist doch Helene?“
    Amalia.
    In Helenes Kopf jagten sich die Gedanken.
    „Ich war eine besonders gute Freundin deiner Mutter.
    Bestimmt kannst du dich nicht mehr an mich erinnern. Du warst damals noch so klein.“
    Aber Helenes Gedächtnis hatte gefunden, wonach es gesucht hatte: Ein von Locken umrahmtes Gesicht, das sich über sie beugte, braune Augen, die sie besorgt anstarrten, Hände mit langen Fingern, die ihre heiße Stirn befühlten. Ein Schreck durchfuhr sie. Hatte Amalia mit dem Überfall zu tun gehabt?
    Als das Mädchen seinen panischen Gesichtsausdruck nicht verlor, versuchte Amalia ihrem Gedächtnis auf die Sprünge zu helfen.
    „Amalia. Tante Lia habt ihr mich genannt. Zweimal in der Woche bin ich bei euch vorbeigekommen, habe mit euch beiden gespielt und mit eurer Mutter auf dieser Bank gesessen, geredet und gelacht, später auch geweint. Vielleicht kannst du dich noch an die Nascherei erinnern, die ich euch immer mitgebracht habe: Kleine Mäuse waren es, mit Rosinenaugen und Mandelohren.“
    „Ja!“, bestätigte Helene. „An die Mäuse erinnere ich mich. Sie waren aus süßem Hefeteig und schmeckten ganz besonders gut.“
    „Ich wette, du hast seither keine mehr zu naschen bekommen!“, lachte die Frau mit wohltönender, dunkler Stimme.
    „Stimmt!“
    „Was ich dir jetzt sage, ist wichtig, Kind. Ich weiß, dass du die Menschen fürchtest – das ist nur allzu verständlich und auch nicht das Schlechteste. Deshalb werde ich auch warten, bis du zu mir Vertrauen fasst und zu mir kommst. Aber bevor ich gehe, möchte ich dir noch eine kleine Geschichte erzählen, damit du erkennst, wer Amalia ist. Wirst du zuhören?“
    Das Mädchen nickte, bat die Frau aber nicht herein. „Beim Begräbnis meiner eigenen Mutter – das liegt nun schon mehr als dreißig Jahre zurück – passierte etwas Merkwürdiges. Ich spürte, wie etwas von mir Besitz ergriff. Ich verlor das Bewusstsein. Man brachte mich nach Hause und bette mich im Wohnzimmer auf eine Couch. Erst nach Tagen erwachte ich wieder aus der Ohnmacht und wusste nicht, was mit mir geschehen war. Doch in den Monaten danach fand ich langsam heraus, dass ich das ,zweite Gesicht‘ bekommen hatte. Ich sehe die Schicksale der Menschen voraus. Die Dorfbewohner halten mich für eine Hexe und fürchten mich. Nur deine Mutter erkannte, dass ich weder besessen noch verrückt bin, und suchte Kontakt zu mir. Wir waren Freundinnen. Nach ihrem Tod wurde ich ganz aus dem Dorf verbannt – man weicht mir aus, zum Einkaufen fahre ich bis nach Meran oder Bozen. Die Leute glauben, ich bin bösartig. Aber oh, ich schweife ab! Bevor ihr wieder zurück auf den Hof kamt, sah ich eine große Gefahr auf dich lauern. Sie wartet seit deiner Geburt schon auf den passenden Moment. Es gab Anschläge auf dein Leben, die allesamt fehlschlugen. Doch die Gefahr ist noch nicht vorbei. Seit du zurück bist, sucht sie nach einer passenden Gelegenheit. Gib Acht auf dich!“
    Die Gefahr wartete hier im Tal auf mich, hallte es in Helenenach. Sie war nicht mit mir in Köln! Hatte sie sich getäuscht und all die Jahre den Falschen des Mordes verdächtigt? Gab es also zwei voneinander unabhängige Täter, und hatte sie ihren eigenen Tod, der nur kam, um sie zu sich zu holen? Einer, der nicht bei ihrer Mutter gewesen war, sondern es nur auf sie abgesehen hatte?
    Amalia warf einen Beutel über den Zaun, winkte zum Abschied und ging dann langsam über die Wiese davon. Helene sah ihr nach, bis sie Amalias flatternde bunte Kleidung nicht mehr sehen und das leise Klimpern ihrer Armreifen nicht mehr hören konnte. Dann hob sie den Beutel auf und sah hinein.
    Darin lagen eine detaillierte Wegbeschreibung zu Amalias

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