Steinhauer, Franziska
riet Klapproth ihm zum Abschied. Sie würde jetzt das Terrain um das Sektenhaus sondieren, beschloss sie energisch.
Biest tobte die schneefeuchte Wiese am Waldrand entlang.
Helene war dankbar für die Begleitung des Hundes. Mehrfach hatte sie das unbestimmte Gefühl, verfolgt zu werden, doch da sie nie jemand entdeckte, wenn sie sich umdrehte, hielt sie diesen Eindruck schon bald für hysterische Einbildung.
Plötzlich verhielt Biest den Schritt.
Sein kleiner, kurzer Körper spannte sich, er hob den linken Fuß und starrte in die Dunkelheit des Waldes. Aufgeregt wedelte er mit dem Schwanz, bellte jedoch nicht mehr, sondern schnupperte laut. Kleine Atemwölkchen bildeten sich vor seiner Schnauze. Wäre Helene nicht so beunruhigt gewesen, hätte sie vielleicht darüber gelacht.
„Biest!“, flüsterte sie, „was ist los?“
Doch der Hund beachtete sie nicht.
Wie hypnotisiert stierte er zwischen die Bäume.
„Lass uns von hier verschwinden, ja? Es war eine blöde Idee, das Haus zu verlassen! Komm, wir gehen zu Paula zurück!“ Ihre Stimme war schrill vor Angst. Sie drehte sich in Richtung Haus und schnalzte mit der Zunge. „Komm!“
Doch der unerfahrene Hund hatte nicht die Absicht, sich von seinem Abenteuer abbringen lassen.
Sein Schwanz wedelte heftig, und er begann erwartungsvoll zu knurren.
Helene trat näher an ihn heran und wollte ihn am Halsband fassen, doch ihre Hände griffen ins Leere.
Unvermittelt war er losgerannt und zwischen den Bäumen verschwunden.
Voller Entsetzen rief Helene nach ihm. Doch in den Wald hinein konnte sie ihm nicht folgen.
Sie hörte ihn in der Ferne kläffen.
Daraus wurde ein drohendes Bellen.
Dann ein Knurren.
Winseln.
Und plötzlich war gar kein Geräusch mehr zu hören. Zitternd vor Angst stand Helene am Waldrand. „Biest? Biest!“
Keine Reaktion.
Bilder von einer Wildererfalle schossen ihr durch den Kopf, Biest war vielleicht verletzt, sie musste ihm helfen! Schließlich war es ihre Entscheidung gewesen, ihn zu diesem Ausflug mitzunehmen, sie allein war verantwortlich.
Es kostete sie alle Überwindung, zu der sie fähig war, um sich staksig in Bewegung zu setzen.
Sie versuchte sich gedanklich auf die Situation vorzubereiten, die sie möglicherweise antreffen würde: Biest, der versuchte, seinen Hinterlauf abzubeißen, weil er in einer Falle steckte, Biest, dessen Schnauze in einer Falle steckte, Haut und Muskulatur bis auf die Kieferknochen abgezogen.
Doch all das war nichts im Vergleich zu dem, was Helene schon nach wenigen Metern fand.
„Biest?“
Fassungslos starrte sie auf das helle Fellbündel zu ihren Füßen.
Der Hund konnte ihr nicht mehr antworten.
Biest war tot.
Sein Kopf komplett vom Rumpf abgetrennt.
Trotz ihrer Panik wusste Helene sofort: Solch eine Verletzung war durch keine Falle entstanden.
Angstvoll drehte sich das Mädchen im Kreis.
Aus welcher Richtung war sie gekommen?
Es raschelte in unmittelbarer Nähe.
Helene blieb keine Zeit für weitere Überlegungen.
Hals über Kopf stolperte sie los.
Schritte auf dem Waldboden.
Jemand keuchte.
Dieses Keuchen – das Mädchen wusste nun, dass der Tod gekommen war, um zu vollenden, was er damals nicht zu Ende gebracht hatte. Wenn er sie erreichte, würde sie sterben – wie ihr Hund.
Helene spürte plötzlich ihre Beine nicht mehr. Zitternd sank sie auf die Knie, kroch auf allen vieren zu einem mächtigen Stamm und lehnte sich bebend und schwer atmend dagegen. Was für einen Sinn hatte es, zu fliehen? Ihr ganzes bisheriges Leben war ein einziges Davonlaufen gewesen – nun wollte sie nicht mehr.
Die Schritte kamen näher.
Nur noch wenige Augenblicke, und sie könnte ihrem Peiniger ins Gesicht sehen.
Hatte jeder Mensch seinen eigenen Tod, überlegte sie, jemanden, der ihn holt? Was, wenn die beiden sich bei dem Gewimmel, das auf der Erde herrschte, nie über den Weg liefen – lebte man dann unendlich lange? Wäre sie nicht ins Ultental zurückgekehrt, hätte ihr persönlicher Tod sie nicht gefunden – er war ganz offensichtlich an St. Gertraud gebunden. Die ganzen Jahre in Köln hatte es gar keinen Grund für ihre Angst gegeben, erkannte sie nun. Maria Gumpers Tod hatte gar kein Interesse daran gehabt, auch ihre Tochter zu holen. Für Helene war ein anderer zuständig.
Helene schloss die Augen und wartete auf ihn. „Helene! Helene, bist du hier?“
Langsam öffnete das Mädchen wieder die Augen.
Dies war nicht die Stimme, die ihrer Erwartung nach zu ihrem Tod gehörte –
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