Steinhauer, Franziska
nachsichtig lächelnd. „Genau wie damals. Da hast du mir auch schon Inkompetenz vorgeworfen.“
Aller Augen richteten sich nun auf den Arzt, als sei dieser in der Lage, das Rätsel endlich für sie zu lösen und das ganze Dorf von diesem Fluch zu befreien. Doch den Gefallen tat Dr. Gneis ihnen nicht. „Die Maria Gumper ist an Krebs gestorben. Sie kam aus dem Krankenhaus nach Hause zurück, weil sie lieber im Kreis ihrer Familie sterben wollte. Das hat sie dann auch getan.“
„Hat sie nicht!“, widersprach eine energische Stimme,die Imme gehörte, der Mutter Leopolds. „Mein Junge war Zeuge! Ganz aufgewühlt ist er jedes Mal gewesen, wenn er davon erzählt hat. Der Leopold war kein Lügner!“
„Der Leopold hatte als kleiner Junge eine Hirnhautentzündung. Von den Folgen dieser Erkrankung hat er sich nie mehr erholt, das wissen alle im Dorf so gut wie ich“, wandte der Arzt ein. „Es stimmt, der Leopold hat sicher nicht gelogen. Aber er war oft nicht in der Lage, richtig zu interpretieren, was er beobachtet hat. Vielleicht hat er ja nur gesehen, wie der Jakob sich mal irgendwann über seine Frau gebeugt hat – und andere haben dann daraus eine Mordgeschichte gemacht.“
„Ja, ja – das haben Sie damals auch schon zu Protokoll gegeben!“ Imme schlug mit der flachen Hand auf den Wirtshaustisch. „Und damit Jacobs Kopf aus der Schlinge gezogen! Mit dem haben Sie doch schon vor zehn Jahren unter einer Decke gesteckt! Es ist im Grunde nur Ihre Schuld, dass wir uns jetzt wieder über diesen Mann ärgern müssen, dessen Tat noch immer nicht gesühnt ist!“
„Imme, es ist für Eltern immer schwer zu akzeptieren, dass ihr Kind geistig behindert ist. Leopold hat Küken mit seinen Pranken zerquetscht – nur so. Dass sie danach tot waren, konnte er nicht begreifen. Er konnte auch nicht richtig sprechen. Die Worte seines Berichts stammen aus deiner ,Übersetzung‘.“
„Das ist nicht wahr. Mein Leopold war ein lieber Junge. Er hat nicht mehr Blödsinn gemacht als andere Jungs im Ort. Und wenn man sich ein bisschen Mühe gab und ihm gut zuhörte, waren seine Worte sehr wohl zu verstehen!“, widersprach Imme vehement, und eine Freundin eilte ihr zu Hilfe.
„Das stimmt. Man musste sich halt auf ihn einlassen.
Nur Ungeübte kamen mit seiner Sprache nicht zurecht. Und sollte er wirklich Küken getötet haben, so ganz sicher nicht mit Absicht. Er war eben ein bisschen ungestüm.“
Dr. Gneis warf einen geringschätzigen Blick auf die versammelte Dorfgemeinschaft.
„Mir ist schon klar, warum nicht einer von euch den Mut hat, aufzustehen und zuzugeben, dass er Angst vor Leopold hatte. Vor seiner Kraft, die er nicht kontrollieren konnte, genauso wie vor seiner Aggressivität. Keiner von euch erzählt, dass ihr jedes Mal die Kinder reingeholt habt, wenn er durchs Dorf schlich, niemand gibt zu, dass man den Jungen weder verstehen konnte, noch dass er in der Lage war zu verstehen, was man ihm erklärte. Und wisst ihr auch warum? Nein? Nun, dann werde ich es euch sagen: Ihr schweigt, weil es außer Leopold keinen anderen Zeugen gegen Jakob Gumper gibt und eure Mordtheorie ohne ihn auf tönernen Füßen stehen würde! Und nun kommt dieser Mann nach so langer Zeit zurück – ja, er ist noch nicht einmal wirklich in St. Gertraud angekommen –, und schon brüht ihr die alte Geschichte wieder auf, die dadurch, dass man sie wiederholt, auch nicht wahrer wird. Und der Grund? Weil ihr glaubt, so könntet ihr den furchtbaren Mord vergessen machen, der seit mehr als dreißig Jahren auf eurem Gewissen lastet und darüber hinwegtäuschen, dass euch der Gedanke umtreibt, ihr könntet seit mehr als dreißig Jahren einen Mörder in eurer Mitte haben, der nicht Jacob Gumper ist, und mit dem ihr womöglich auch noch befreundet seid! Das ist die Wahrheit, der ihr nicht ins Gesicht sehen wollt!“
Bedrohlich starrten die St. Gertrauder ihn an. Er hatte nie wirklich zu ihnen gehört.
War ein Zugereister.
Was wusste der schon.
Was erlaubte der sich überhaupt!
Durch demonstratives Umrücken der Stühle fand sich der Arzt plötzlich außerhalb der Dorfgemeinschaft wieder.
„Sture Böcke!“, fluchte Dr. Gneis leise vor sich hin. „Geheimniskrämer!“ Missmutig warf er das Kleingeld für seinen Kaffee auf den Tisch und verließ den Ultnerhof.
Sein Blick fiel auf das alte Widum, das Pfarrhaus der Gemeinde St. Gertraud, direkt gegenüber der Kirche, von dem sie nun dank der damaligen Ermittlungen der Polizei wussten, wie
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