Steinhauer, Franziska
in Ordnung, die nach der Einschätzung der meisten anderen moralisch verwerflich sind. Und die sie nur aus dem Grund nicht tun, weil sie ihrem Ansehen schaden könnten. Mario kennt da ein paar interessante Beispiele.
Es ist völlig okay zu sagen, ich hasse den oder diejenige. Mario meint, man soll seine wahren Gefühle erkennen und nicht unterdrücken.“Klapproth lehnte sich etwas zurück und trank von ihrem Wein.
„Hass ist so ein großes Wort. Es stimmt schon, dass wir meistens vermeiden, es zu benutzen. Wir wählen andere Formulierungen. Ich kann ihn nicht leiden, nicht riechen, er passt mir nicht, er stinkt mir, er ist mir absolut unsympathisch, ich finde ihn widerlich, kann ihn nicht ausstehen. Und vieles andere mehr. Erstaunlich.“
Yvonne zog ein Foto aus ihrer Handtasche.
„Das ist Mario. Der nette Junge von nebenan. Jeder nutzt ihn aus, niemand respektiert ihn. Das will er ändern, aber er wird es überlegt tun. Julian ist dagegen gefährlich. Sein Hunger nach Leben, sein Streben danach, allen zu zeigen, dass er gesund ist und alles schaffen kann – er wird dafür jedes Risiko eingehen. Er ist eine Gefahr für sich und andere – besonders für Mario.“
„Eine Gefahr?“
„Ja. Kennen Sie ,Das fliegende Klassenzimmer‘? Dort springt Uli, weil er seinen Mut beweisen will, mit einem Regenschirm in der Hand in die Tiefe – und verletzt sich dabei. Aber Uli ist ein Angsthase – Julian ist tatsächlich mutig.“
Sie tranken sich zu und aßen schweigend.
„Sagen wir, ich weiß, dass es Mario gut geht“, sagte Yvonne unvermittelt, „Sie sollten wirklich nicht von einer Entführung ausgehen.“
27
Anton staunte nicht schlecht, als Jakob ihn an diesem Abend besuchen kam.
„Na, kleiner Bruder? Hat St. Gertraud zugeschlagen?“
„Ha!“, meinte Jakob nur, „das kann man wohl sagen.“
Leise ächzend nahm er an Antons Bett Platz, „in meinem eigenen Haus!“
„Wer war es?“
„Wenn ich das nur wüsste! Ich habe noch Schritte auf der Treppe gehört und dachte, Dr. Gneis wäre auf einen Sprung vorbeigekommen. Als ich mich dann umgedreht habe – zack, wurde es auch schon dunkel. Mit einem Holzscheit!“
Er rang die aufkommende Übelkeit mühsam nieder. „Waltraud erzählt, dass man im Dorf munkelt, es seien die Satanisten gewesen, weil du sie ausspioniert hast.“
„Ach Quatsch! Ausspioniert! Ich habe sie ein bisschen beobachtet, sonst nichts. Nur zugeguckt, wie sie Umzugskisten ins Haus getragen haben. Nein, nein – das glaube ich nicht! Es ist so, wie es immer war: St. Gertraud schiebt jemand anderem die Schuld in die Schuhe!“
„Jakob“, mahnte Anton matt, „gerate nicht auch noch zwischen die Fronten! Es reicht, wenn die Dorfbewohner dich mit ihrem Hass verfolgen. Leg dich nicht auch noch mit deinen neuen Nachbarn an, selbst wenn sie dir unangenehm sind!“
„Sie sind mir gar nicht unangenehm. Ich kenne sie ja gar nicht, ich war bloß neugierig.“
„Wer war es dann?“
„Ich denke, einer aus dem Dorf, der den alten Forderungen etwas mehr Nachdruck verleihen wollte.“ Seine Hände fuhren tastend über den Kopfverband, und er grinste freudlos.
„Aber wer, Jakob?“, fragte Anton drängend. „Du weißt nicht, vor wem du dich in Acht nehmen musst, wenn du im Dorf wohnst. Hast du je daran gedacht, der Mörder von Maria könnte es nun auf dich abgesehen haben?“
Jakob Gumper erinnerte sich an das Gespräch mit Dr. Jürgens. Sein Therapeut hatte ebenfalls an diese Möglichkeit gedacht.
„Maria wurde nicht ermordet.“
„Halsstarrigkeit hilft hier nicht weiter!“, wies Anton ihn scharf zurecht, und Jakob zuckte zusammen. Antons Zeit war begrenzt, er wollte zum Kern des Problems vordringen und duldete keine Ausweichmanöver mehr.
„Ich dachte immer, wenn es ein Mord war, dann muss Leopold der Täter gewesen sein. Er hat schließlich immer zugegeben, am Tatort gewesen zu sein.“
„Jakob, Leopold ist tot. Und du wurdest heute niedergeknüppelt! Ich sage dir, Leopold war’s nicht!“
„Komm schon. Das ist doch eine unnötige Diskussion. Dr. Gneis hat den Totenschein auf ,Todesursache natürlich‘ ausgestellt! Wir sollten uns nicht von der Stimmung in St. Gertraud anstecken lassen!“ Er warf den Kopf zur Bekräftigung seiner Worte zurück und bereute die heftige Bewegung sofort. Ein stechender Schmerz fuhr durch seinen Kopf, und für einen Moment drehte sich das Zimmer so schnell um ihn, dass er befürchtete, vom Stuhl zu fallen.
„Du solltest ruhiger
Weitere Kostenlose Bücher