Sterne über Tauranga - Laureen, A: Sterne über Tauranga
tun hatte und sich nur dann in die Stadt aufmachte, wenn er dort etwas zu besorgen hatte. Aber wenn sie Hufschlag hörte, wandte sie sich unwillkürlich zum Fenster um, um zu sehen, ob er es war, der da vorüberritt.
Wenn er sich in den nächsten Tagen nicht blicken lässt, kann ich ihm die Einladung zur offiziellen Praxiseröffnung nicht persönlich überreichen, dachte Ricarda. Das wäre schade. Aber ich kann sie ihm ja schicken. Schließlich muss dieser Schritt gefeiert werden. Molly wird mir gewiss ein schönes Buffet vorbereiten.
Ricarda sog den Geruch der Malerfarben ein, der noch in der Luft hing. Die Einrichtung ihrer Praxis bestand wie die ihrer Wohnung vor allem aus gebrauchtem Mobiliar, darunter eine gut erhaltene Untersuchungsliege, die Mr Cantrell beschafft hatte. Aber dank Jack verfügte sie wenigstens über nagelneue Geräte und Instrumente, die im Morgenlicht funkelten.
Hättest du dir je träumen lassen, dass dich so viele Menschen freundlich unterstützen werden?, fragte Ricarda sich, während sie sich vor die Wand ihres Sprechzimmers stellte, an der sie ihr Diplom aufgehängt hatte. Lächelnd strich sie mit dem Ärmel über das Glas, obwohl kein einziges Staubkörnchen zu entdecken war, und betrachtete ihr Gesicht, das sich darin spiegelte.
Als Schritte hinter ihr und bald darauf ein Klopfen ertönten, wandte sie sich um. »Nur herein!«
Eine Frau öffnete zaghaft die Tür. Sie war schätzungsweise Ende dreißig und sehr einfach gekleidet. Das braune Haar hatte sie im Nacken zu einem Knoten geschlungen.
»Guten Morgen, Madam, was kann ich für Sie tun?«
»Ich hab gehört, dass hier jemand 'ne Praxis aufmacht.« Sie blickte sich scheu um.
»Stimmt. Ich habe soeben eröffnet.« Ricarda setzte ein verbindliches Lächeln auf.
»Sind Sie die Ärztin?«
»Ja. Mein Name ist Ricarda Bensdorf.«
»Die, die Bessett gerettet hat?«
»Ja, die bin ich.«
Ricarda musterte die Frau. Sie wirkte nicht sonderlich gut genährt und ging trotz ihrer Jugend krumm. Hatte sie Schmerzen? »Haben Sie irgendwelche Beschwerden? Ich untersuche Sie gern, wenn Sie möchten.«
Die Frau zögerte noch immer. »In Tauranga hat's noch nie 'ne Ärztin gegeben«, sagte sie skeptisch.
Ricarda unterdrückte ein Seufzen. »Deshalb wird es ja auch Zeit!«, entgegnete sie so fröhlich wie möglich. »In Europa gibt es mittlerweile etliche. Sehr erfolgreiche sogar.«
Offenbar reichte das noch nicht, um zu überzeugen. »Ich habe vor, mich auf Frauen- und Kinderheilkunde zu spezialisieren«, setzte Ricarda deshalb hinzu. »Entgegen dem Glauben vieler Leute sind Frauen schon deshalb besser geeignet, sich um weibliche Erkrankungen zu kümmern, weil sie den weiblichen Körper aus eigener Erfahrung kennen.«
Endlich schloss die Besucherin die Tür hinter sich und trat näher.
»Ich hab Schmerzen. In meiner ...« Sie stockte und deutete verlegen auf ihren Unterleib. »Ich dachte erst, es geht von allein weg, aber das tut's nich'.«
»Gut, dann schau ich es mir mal an. Vor mir brauchen Sie sich nicht zu schämen.«
Die Frau überlegte noch einen Moment, bevor sie fragte: »Was muss ich tun?«
»Legen Sie sich auf diese Liege! Und keine Sorge, ich werde Ihr Schamgefühl nicht verletzen.«
Die Frau tat wie geheißen.
»Wie ist Ihr Name?«, fragte Ricarda, während sie zum Schreibtisch ging und nach einer Karteikarte griff, auf der sie alle Befunde der Patientin notieren wollte.
»Maggie Simmons.«
»Gut, Mrs Simmons, dann lassen Sie uns beginnen.«
Ricarda krempelte die Ärmel hoch, wusch sich die Hände mit verdünntem Karbol und legte der Frau ein weißes Tuch über die Beine. Zunächst begnügte sie sich nur mit Abtasten. Als die Patientin mit einem schmerzvollen Stöhnen reagierte, hob sie Tuch und Rock an und zog die Unterhose der Patientin herunter. Was sie sah, raubte Ricarda den Atem: unverkennbare Anzeichen von Gonorrhoe! Wenn sie die Symptome richtig deutete, hatte die Krankheit sich bereits im gesamten Körper ausgebreitet; die Unterleibsschmerzen waren vermutlich einer Entzündung des Bauchfells zuzuschreiben. Natürlich würde sie diesen Verdacht durch einen Abstrich erhärten müssen, bevor sie eine Therapie erwog.
Wenn sie ehrlich war, hätte sie sich eine andere erste Patientin gewünscht. Gegen die Gonorrhoe konnten die Ärzte noch immer nicht viel ausrichten. Es gab mittlerweile eine Prophylaxe mit Silbernitrat, um ungeborene Kinder vor Ansteckung zu schützen. Einige Kollegen schworen auf kolloidales
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