Sternenfaust - 149 - Apokalypse
die ihn wie einen Heiligen verehrten. Millionen kauften sich T-Shirts mit seinem Porträt. Leute, die ihn kannten oder ihm begegneten, beschrieben ihn als charmant, höflich und sanftmütig. Obwohl er reich war, lebte er bescheiden. Er spendete sein Vermögen an Witwen und Waisen. Er gründete Wohlfahrtsorganisationen und humanitäre Einrichtungen. Seine Religion bezeichnete er als die Religion der Nächstenliebe. Er glaubte an eine Welt, die das Gute belohnt. An einen Gott, der zwischen Hautfarben, Geschlecht und Sprache keinen Unterschied macht. Und nun, Taglieri, was denkst du wohl, von wem ich spreche?«
»Ich habe keine Lust auf Ratespielchen«, wimmelte Vince ab. Er hatte nur mit halbem Ohr zugehört. »Keine Ahnung«, sagte er schließlich und überlegte krampfhaft, was er über das 20. Jahrhundert noch wusste. »Nelson Mandela vielleicht?«, meinte er schließlich.
»Nein«, erwiderte Adric grinsend. »Ich spreche von einem Mann namens Osama bin Laden.«
Taglieri überlegte intensiv und schüttelte dann den Kopf. »Nie gehört«, meinte er schließlich.
»Osama bin Laden war damals das Oberhaupt eines Terrornetzwerkes, das sich al-Quida nannte. Er veranlasste mehrere grausame Terroranschläge gegen Zivilisten. Tausende starben. Es ist dennoch kein Wunder, dass du ihn nicht kennst. Gegen die Verbrechen des 20. und 21. Jahrhunderts, bei denen zum Teil zig Millionen dahingerafft wurden, ist ein Osama bin Laden heute, 200 Jahre später, wohl das, was man als kleinen Fisch bezeichnet. Eine Fußnote in den Geschichtsbüchern, auch wenn vereinzelte Historiker die umstrittene These vertreten, mit ihm hätten die sogenannten Terror- und Finanzkriege des 21. Jahrhunderts begonnen. Nichtsdestotrotz: Damals, vor 200 Jahren, war das anders. Da hatte so ziemlich jeder von ihm gehört.«
»Und was soll mir diese Geschichte sagen? Offenbar war der Mann ein Heuchler. Ein Verblendeter, der von guten Dingen sprach und selbst die schlimmsten Verbrechen beging. Einer von vielen, die ihre Doppelmoral und Scheinheiligkeit selbst nicht erkennen wollten.«
»Und doch glaubte er, gegen das Böse zu kämpfen, als er Leid und Elend verbreitete. So seid ihr Menschen. Ihr seid vom Bösen besessen. Eure ganze Literatur, eure Religionen, eure Gesetzgebung … Sie dreht sich stets um den Kampf gegen das Böse. Die Bekämpfung des Bösen, die Bestrafung des Bösen. Das Böse, es ist eine seltsame, scheinbar unerschöpfliche Macht, die euch ständig neue Feinde, neue Verbrecher und neue Gegner beschert. Der damalige amerikanische Präsident George Bush hatte auch zum Kampf gegen das Böse aufgerufen. Sein Vorgänger, ein Präsident namens Ronald Reagan, hatte einst vom ›Reich des Bösen‹ gesprochen, wenn er das Land meinte, das heute als russische Subregion bekannt ist. Bush wählte die Formulierung ›Achse des Bösen‹. Nach den grausamen Terroranschlägen von bin Laden ließ Bush eine Region mit dem Namen Irak angreifen, dessen Bewohner damals von einem Diktator namens Saddam Hussein unterdrückt wurden. Obwohl Hussein und bin Laden Erzfeinde waren, sprach Bush von der ›Achse des Bösen‹. Dazu zählte er islamische Terroristen, Nordkorea, den Iran und den Irak. Fast einhunderttausend Zivilisten starben.«
»In der Vergangenheit wurden viele Verbrechen begangen.«
»Und stets hatten sie schöne Namen. Eine Kriegsoperation nannte man zum Beispiel ›Operation Enduring Freedom‹. Siebzig Nationen beteiligten sich an dieser Operation und eroberten unter anderem ein Land namens Afghanistan. Mutmaßliche al-Qaida-Terroristen wurden unter anderem in dem US-Stützpunkt Guantanamo auf Kuba oder in der Bagram Air Base inhaftiert. Gewalt und jahrelange Folter, die selbst vor Kindern und Jugendlichen nicht haltmachte, sollten auch dort dem Kampf gegen das Böse zum Sieg verhelfen.«
»Ich weiß noch immer nicht …«, holte Vince aus, doch diesmal wurde er unterbrochen.
»So intensiv und ausgiebig deine Menschheit in ihrer ganzen Geschichte gegen das Böse gekämpft hat, dieses Böse müsste längst ausgerottet sein. Doch man kann nichts ausrotten, was es gar nicht gibt. Etwas, das nur als Idee existiert! Die Wahnvorstellung vom Bösen trübt euch seit Jahrtausenden den Blick. Es vertreibt jegliche Moral, jedes Gefühl von Recht und Unrecht. Es ist eine wunderbare Ablenkung gegen die stets vorhandenen materiellen Interessen. Die Gier treibt euch zum Kampf, und die Erfindung des Bösen unterdrückt eure Moral. So kämpft ihr ohne
Weitere Kostenlose Bücher