Stevens, Chevy
berechnen, wie viele Schritte ich brauchte, um
zu entkommen. Ich wusste, dass so spät nur eine Kasse geöffnet war. Ein
Kinderspiel. Ich trat näher an den Wagen heran. Das Herz pochte mir bis
in die Ohren, und im flimmernden Licht der Leuchtstoffröhren registrierte ich
jedes einzelne der feinen blonden Haare des Kindes und streckte die Hand aus,
um eine der seidigen Strähnen zu berühren. Mein Baby hatte dunkles Haar. Das
war nicht mein Baby. Mein Baby war tot.
Ich trat
zurück, gerade als die Mutter sich erhob, mich sah und auf den Wagen zukam.
»Hallo«,
sagte sie mit einem zögernden Lächeln.
Ich wollte
sagen, was haben Sie sich denn dabei gedacht? Drehen Ihrem Kind
auf diese Weise den Rücken zu. Wissen Sie nicht, was passieren könnte? Wie
viele Verrückte herumlaufen? Wie verrückt ich bin?
»Was für
ein fröhliches Kind«, sagte ich. »Und so hübsch.«
»Im Moment
sieht sie ganz zufrieden aus, aber Sie hätten sie vor einer Stunde erleben
sollen! Es hat ewig gedauert, bis ich sie endlich beruhigt hatte.« Während sie
sich über ihren Stress als Mutter ausließ, Stress, für den ich meine Seele
verkaufen würde, wollte ich sagen, weißt du eigentlich, wie viel
Glück du hast? Du undankbare Schlampe, sei froh um jeden Schrei, der aus dem
Mund deines Kindes kommt. Stattdessen blieb ich wie gelähmt
stehen, lächelte gelegentlich oder nickte der Frau zu, bis sie schließlich an
Schwung verlor und abschließend fragte: »Haben Sie Kinder?«
Ich
spürte, wie mein Kopf hin und her schwang, fühlte, wie meine Lippen sich nach
einem Lächeln wieder zusammenzogen, spürte sogar meine Kehle vibrieren, als
ich sagte: »Nein, keine Kinder.«
Meine
Augen mussten etwas verraten haben, denn sie lächelte freundlich und sagte:
»Das kommt schon noch.«
Ich
erwiderte ihren Blick. Ich wollte ihr sagen, dass es sehr wohl gekommen war, nur
um mir wieder genommen zu werden. Na, wie
schmeckt dir das, du eingebildete, selbstzufriedene Kuh? Aber ich
sagte nichts. Ich lächelte nur, nickte und wünschte ihr einen angenehmen Abend,
als ich sie dort in dem Gang stehenließ. In diesem Moment habe ich begriffen,
dass ich vielleicht doch nicht so gut allein zurechtkam. Ich schaffte es noch
eine Weile, den Moment zu verdrängen, hinter all die anderen Momente, in denen
ich dem Wahnsinn nahe war. Bis ich eine Anzeige in der Zeitung sah, dass eine
der Frauen, mit denen ich früher einmal zusammengearbeitet hatte, einen Sohn
bekommen hatte. Ich schickte eine Karte, aber ich wusste, dass ich nicht in die
Nähe des Babys kommen durfte. Allein die Karte auszusuchen war schon Quälerei
genug gewesen. Ich bin mir nicht sicher, warum ich sie überhaupt geschickt
habe, außer dass es ein weiterer jämmerlicher Versuch war, mir zu beweisen,
dass ich mit dem Scheiß allein klarkam, obwohl ich es ganz offensichtlich nicht
schaffte.
»Wayne und
ich würden uns freuen, wenn du heute Abend zum Essen vorbeikämst«, sagte Mom,
als sie letzten Dienstag am späten Nachmittag anrief. »Ich habe einen Braten
gemacht.«
»Ach
Mensch, ich habe schon gegessen. Hätte ich das bloß früher gewusst!« Ich hatte
noch nichts gegessen, aber lieber würde ich meinen Körper auf glühenden Kohlen
wälzen - zum Teufel, ich würde lieber heiße Kohlen essen -, als
rüberzugehen und mir anzuhören, was ich jetzt schon wieder vermurkst hatte. Nur
Mom schaffte es, dass ich mich mies fühlte, weil ich mich mies fühlte. Ich
hatte bereits schlechte Laune wegen dieses einen bescheuerten Filmproduzenten,
der nicht aufhörte, mir Angebote an meine Tür zu kleben - er stand sogar da und
versuchte, durch das Holz mit mir zu reden, wobei er mit der Summe alle paar
Minuten höherging, als sei er auf einer gottverdammten Auktion. Er
verschwendete seinen Atem.
Ich
erinnere mich, wie ich vor Jahren den Film Titanic gesehen
habe. Die Leute hatten sich mit Popcorn vollgestopft und unterhielten sich auf
dem Weg nach draußen über die super Spezialeffekte und wie realistisch alles
gewirkt habe, vor allem die auf dem Meer treibenden Leichen. Und ich? Ich ging
auf die Toilette und übergab mich, weil die Menschen tatsächlich so gestorben
waren - Aberhunderte Menschen - und es mir falsch vorkam, dazusitzen und Süßigkeiten
zu essen, sich das Salz von den Fingern zu lecken und die authentische
Darstellung der Erfrorenen im Wasser zu bewundern.
Ich will
auf gar keinen Fall, dass die Leute sich mit Popcorn vollstopfen, während sie
mein Leben nach seinem Unterhaltungswert
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