Stimmen aus dem Nichts
nicht, bei deiner penetranten Art Leuten auf den Pelz zu rücken. Aber du musst endlich mal einsehen, dass es auch Menschen gibt, die anders empfinden als du. Es gibt nun mal Momente im Leben, in denen man mit niemandem sprechen möchte. Auch mit dir nicht, Erster. Das ist zwar hart, sollte aber endlich mal in deinen Dickschädel gehen! Also, ich für meine Person kann die alte Dame recht gut verstehen.«
Fassungslos ließ Justus diese Standpauke über sich ergehen und für einen Moment fehlten ihm sogar die Worte, um Peters Anklage etwas entgegenzusetzen.
»Nun mach aber mal einen Punkt, Peter«, schritt Bob ein. »Du solltest nicht vergessen, dass uns Justus’ aufdringliche Art schon in vielen Fällen aus der Misere geholfen hat. Und in einem Punkt muss ich unserem Chef leider beipflichten: An Dr. Franklins therapeutischer Behandlungsmethode ist etwas oberfaul.«
»Könntest du uns das genauer erklären?«, wollte Peter wissen.
»Was ich in der Sache beizutragen haben, Kollegen, wird euch sicherlich interessieren. Ich habe vorhin in der Bibliothek zu dem Thema ›Stimmen aus dem Nichts‹ Material zusammengetragen.«
»Du hast in diesem Fall bereits Erkundigungen eingeholt? Alle Achtung!« Stolz blickte Justus zu seinem Freund hinüber. »Dann lass mal hören!«
Bob setzte sich im Schneidersitz auf den breiten Sessel. »Das Phänomen, Stimmen wahrzunehmen, die die Mitmenschen nicht hören können, ist verbreiteter, als ich selbst angenommen habe. Laut Statistik leiden fünf Prozent der gesamten Weltbevölkerung unter dieser – man muss wirklich sagen: ›Tatsache‹. Und der Medizin ist es bis heute nicht gelungen, eine physikalische oder sonst wie plausible Erklärung dafür zu liefern. Dazu muss erwähnt werden, dass selbst Johann Wolfgang Goethe interessante Diskussionen mit imaginären Gesprächspartnern zu führen pflegte. Auch Robert Louis Stevenson, der Autor des Buches ›Die Schatzinsel‹ und auch der Geschichte von ›Dr. Jekyll und Mr Hyde‹, hatte unsichtbare Talkgäste in seinem Kopf, denen er spaßeshalber den Namen ›Brownies‹ gab. Ihr seht also, dass Mrs Holligan mit ihrem Leiden – wenn es denn ein Leiden ist – nicht allein steht. Ganz im Gegenteil: Hirnforscher, Psychologen und Psychiater sind dem Geheimnis schon seit Ewigkeiten auf der Spur, ohne bisher zu einem befriedigenden Ergebnis gelangt zu sein. Die Medizin ist hier noch immer im Stadium der Grundlagenforschung. Das bedeutet mit einfachen Worten: Ob es sich bei diesem Phänomen um eine Krankheit, eine Begabung, einen göttlichen Funken oder schlichtweg um eine Störung der Gehirnfunktion handelt, darüber sind sich die Herren und Frauen Wissenschaftler nicht einig. Die Spezialisten unter ihnen sind sich jedoch über eines im Klaren: Zu den Geisteskrankheiten zählt dieses Phänomen nicht. Das bewiesen zahllose Versuche und Tests, denen sich die Patienten freiwillig unterzogen haben. Man kann nur mit Sicherheit sagen: Wenn sich Menschen, die innere Stimmen hören, zurückziehen und es um sie herum still wird, werden die Stimmen lauter. Deshalb sind die Psychologen und Therapeuten sehr darauf bedacht, dass sich ihre Patienten nicht von ihren Mitmenschen isolieren. Und das bedeutet, dass ich Justus zustimmen muss. Dr. Franklins Behandlungsmethode scheint mir recht fragwürdig zu sein. Denn wenn sie Mrs Holligan verordnet hat sich zurückzuziehen und mit keinem Außenstehenden, in diesem Falle uns, über die Stimmen aus dem Nichts zu sprechen, dann ist da irgendetwas im Busch.«
»Ausgezeichnet, Bob«, lobte Justus. »Du hast den gleichen Verdacht wie ich. Deine Recherchen decken sich eindeutig mit Tante Mathildas Schilderungen und meiner Vermutung. Nur eine Sache bereitet mir Kopfzerbrechen.«
»Und die wäre?«, fragte Bob neugierig.
»Tante Mathilda hält große Stücke auf Dr. Franklin. Immerhin hatte die Therapeutin mit ihrer Behandlungsmethode bei Emily große Fortschritte erzielt. Mit Hilfe der Gesprächstherapie konnte sie ihre Angst vor der Krankheit abbauen und ihrem Körper die nötige Unterstützung zur Genesung leisten. Bei Mrs Holligan wiederum verhält sich die Sachlage genau umgekehrt. Denn durch Abgrenzung und Abwehr lassen sich Ängste nicht mindern. Im Gegenteil! Und ich frage mich, wie Dr. Franklin gedenkt das Problem der alten Dame zu therapieren.«
»Vielleicht hat Mrs Holligan uns einen Bären aufgebunden«, entgegnete Peter. »Wenn meine Mutter beispielsweise keine Lust hat zu telefonieren, aber
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