Sturm der Verfuehrung
Morgenrock. Wie Sarah gleich darauf entdeckte, war auch das Ankleidezimmer ganz in Blautönen und honigfarben glänzender Eiche gehalten.
»Wie spät ist es, Gwen?«, fragte sie, denn ihr fiel plötzlich auf, dass sie großen Hunger hatte. »Was ist mit Frühstück?«
»Kurz nach elf«, rief Gwen aus dem Schlafzimmer herüber, »aber es gibt heute später Frühstück als sonst. Die anderen haben sich gerade erst im Frühstückszimmer eingefunden.«
»Gott sei Dank.« Sarah schnitt ihrem Spiegelbild eine Grimasse. Ihr erster Morgen als Herrin des Hauses, und sie käme als Letzte zum Frühstück. Außerdem wäre sie vielen neugierigen Augenpaaren ausgesetzt und müsste sich benehmen, als wäre es ein ganz normaler Tag - und das in einem Raum mit Charlie.
Die Vorstellung war dazu angetan, einen Magenkrampf zu bekommen, doch als sie in sich hineinhorchte, stellte sie fest, dass sie nach Charlies Aufmerksamkeiten in der letzten Nacht noch immer zu entspannt war, um irgendwelche Krämpfe haben zu können.
Sie verließ die gräflichen Gemächer und ging durch den Korridor zur Galerie und von dort zur Treppe, die in die Eingangshalle und den ihr bekannten Teil des Hauses führte.
Das Frühstückszimmer war ein sonniger Raum abseits des Wintergartens. In der Mitte stand ein langer, gedeckter Tisch und an einer Wand ein Sideboard, das sich schier bog unter der Fülle von Servierplatten und Warmhalteschüsseln. Beide Enden des Sideboards zierten Vasen mit weißen Blumen vom Vortag, was sich sehr hübsch machte.
Bei Sarahs Eintreten schabten allenthalben Stuhlbeine über den Boden, als die Anwesenden sich zu ihrer Begrüßung erhoben. Sie zögerte, wusste nicht, wie sie sich verhalten sollte. Serena, die sie ihr Leben lang kannte und die jetzt ihre Schwiegermutter war, kam lächelnd auf sie zu.
»Da bist du ja.« Serena umarmte sie herzlich, berührte mit den Wangen leicht die ihren und führte sie dann zum unteren Ende der Tafel. »Du kennst ja alle hier.« Mit einer umfassenden Geste deutete sie auf ihre Kinder und die Angeheirateten. Dann drückte sie Sarah sanft auf den hochlehnigen Stuhl hinunter und setzte sich wieder auf den neben ihr. »Wir freuen uns alle sehr, dich auf diesem Platz zu sehen.«
»Danke.« Sarah ließ den Blick wandern und nickte Mary und Alice, Charlies Schwestern, ihren Ehemännern, Alec und George, und Augusta und Jeremy lächelnd ein »Guten Morgen« zu.
Alice beugte sich, nachdem sie das Lächeln kurz erwidert hatte, vor und fuhr mit der Wiedergabe einer Geschichte fort, die sie gestern von einem Hochzeitsgast gehört hatte. Aller Aufmerksamkeit richtete sich auf sie - nur Charlies nicht. Er saß Sarah gegenüber am Kopf der Tafel, in der einen Hand seine Kaffeetasse und in der anderen eine Zeitung, doch er las nicht. Seine Augen ruhten auf ihr.
Sie lächelte ihn an, zeigte ihm auf diesem Weg, wie glücklich und zufrieden sie war.
Sein Ausdruck blieb gleichgültig, und auf diese Entfernung konnte sie nicht lesen, was in seinen Augen stand. Er neigte leicht den Kopf zum Gruß, nippte an seinem Kaffee und senkte den Blick auf die Zeitung.
Sarah war verwirrt. Warum war er so abweisend?
»Tee, Ma’am?«
Es dauerte einen Moment, bis Sarah begriff, dass die Frage ihr galt. Sie schaute auf und sah Crisp neben sich stehen. »Oh. Ja. Danke, Crisp. Tee und ...« Ihr Blick glitt zum Sideboard hinüber.
Der Butler trat beiseite, bereit, ihren Stuhl zurückzuziehen. »Wenn ich einen Vorschlag machen dürfte, Ma’am - die Teufelseier sind ganz exzellent. Eine Spezialität des Kochs.«
Sarah lächelte ihn an und stand auf. »Dann muss ich sie natürlich kosten.«
In der nächsten Viertelstunde aß sie und trank, holte sich eine zweite Portion und genoss die vertraute Atmosphäre einer großen, glücklichen Familie.
»Die übrigen Gäste sind gestern Abend oder heute früh abgereist«, sagte Serena leise zu ihr, um die Unterhaltung der anderen nicht zu stören. »Wenn wir nicht noch mit Mary und Alice und ihrer Brut hätten zusammen sein wollen, wären wir auch schon alle fort. Ein junges Paar muss ein paar Wochen allein sein, um sich in seinem gemeinsamen Leben einzurichten.«
Sarahs Augen weiteten sich - sie hatte nicht gedacht... »Ihr müsst doch nicht fort. Dies ist euer Heim, und es würde mir nicht im Traum einfallen, euch daraus zu vertreiben.«
Serena tätschelte ihre Hand. »Aber jetzt bist du die Herrin hier, meine Liebe, und du kannst mir glauben, wenn ich dir sage, dass ich die
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