Sturm ueber roten Wassern
einzige unbewaffnete Mann an Deck. Die Kurier machte nur noch Ruderfahrt unter einem Groß-Marssegel. Die Takelage am Großmast musste erst ordentlich instand gesetzt werden, bevor man wieder unter Vollzeug segeln konnte; die heruntergefallene Bramstenge war nirgends zu sehen.
Locke und Jean standen vor dem Großmast und warteten ab. Von der Back blickten Männer hinter ihren Bögen auf sie herab. Locke war froh, dass keiner von ihnen seinen Bogen gespannt hatte – sie machten allesamt einen nervösen Eindruck, und Locke traute ihnen weder Urteilsvermögen noch eine ruhige Hand zu. Jabril lehnte sich mit dem Rücken gegen das Beiboot und zeigte mit ausgestrecktem Arm auf Locke.
»Du hast uns verarscht, Ravelle!«
Die Besatzung brüllte und johlte, schwenkte die Waffen und stieß Flüche aus. Locke hob eine Hand, um anzudeuten, dass er sprechen wollte, doch Jabril ließ ihn nicht zu Wort kommen. »Unten in der Kabine hast du es selbst zugegeben. Ich will, dass du es hier draußen noch einmal wiederholst, damit alle es hören können. Du bist kein Marineoffizier!«
»Du hast recht, Jabril«, erwiderte Locke. »Ich bin kein Marineoffizier. Mittlerweile müsste das jedem klar sein.«
»Wer zur Hölle bist du dann?« Jabril und der Rest der Mannschaft sahen aufrichtig verwirrt aus. »Du hast eine Verrari-Uniform getragen. Du bist in den Amwind-Felsen rein-und wieder rausgekommen. Der Archont hatte dieses Schiff beschlagnahmt, und du hast es ihm weggenommen. Was wird hier gespielt, verflucht noch mal?«
Locke vergegenwärtigte sich, dass von seiner Antwort alles abhing; wenn es ihm nicht gelang, den Männern eine zufriedenstellende Erklärung zu geben, wäre es um ihn und Jean geschehen. Die Mannschaft konnte sich keinen Reim auf das machen, was hier vonstattenging, und sie wollte, dass das Rätsel gelöst wurde. Er kratzte sich am Kinn, dann hob er die Hände. »Also gut. Hört mir zu, Männer. Nicht alles, was ich euch erzählt hab, war gelogen. Ich … äh … ich stand tatsächlich als Offizier im Dienst des Archonten, aber ich diente nicht in der Marine. Ich gehörte seinem Geheimdienst an.«
»Geheimdienst?«, schrie Aspel, der mit einem Bogen in der Hand auf der Back stand.
»Du meinst Spione und so?«
»Ganz recht«, bestätigte Locke. »Ich meine Spione und so. Aber ich hasse den Archonten. Ich war es leid, ihm zu unterstehen. Ich dachte … ich dachte, mit einem Schiff und einer Crew könnte ich seinem Einflussbereich entfliehen und ihm gleichzeitig eins auswischen. Caldris stand mir zur Seite und machte die ganze Arbeit, während ich von ihm lernte.«
»Aye«, sagte Jabril. »Aber das ist noch nicht alles. Du hast uns nicht nur getäuscht, indem du dich als Marineoffizier ausgabst.« Er kehrte Locke und Jean den Rücken zu und sprach die Mannschaft direkt an: »Er hat uns auf See gebracht, ohne eine einzige Frau an Bord!«
Es gab wütende Blicke, Pfiffe, rüde Gesten und nicht wenige Handzeichen, um das Böse abzuwenden. Die Männer wollten nicht gern an dieses Thema erinnert werden.
»Moment!«, brüllte Locke. »Ich hatte fest vor, Frauen mitzunehmen; auf meiner Liste standen vier Frauen. Habt ihr sie denn nicht im Kerker gesehen? Die vier weiblichen Gefangenen? Alle erkrankten an einem Fieber. Sie mussten aufs Festland zurückgebracht werden.«
»Du magst ja daran gedacht haben, Frauen aufs Schiff zu bringen«, konterte Jabril.
»Aber was hast du unternommen, um für Ersatz zu sorgen, als die Frauen krank wurden?«
»Der Archont ließ die Leute gefangen nehmen, nicht ich!«, wehrte sich Locke. »Ich musste mich mit dem begnügen, was noch da war. Ihr wart alles, was mir zur Verfügung stand.«
»Natürlich«, erwiderte Jabril. »Aber du hast es auch versäumt, Katzen mitzunehmen.
Als wir in See gestochen sind, war nicht eine einzige Katze an Bord!«
»Caldris sagte mir, dass ich Katzen an Bord bringen sollte«, gestand Locke. »Vergebt mir, aber … aber ich bin eben kein richtiger Seemann. Ich war so damit beschäftigt, aus Tal Verrar zu entkommen, dass ich die Katzen glatt vergessen habe. Ich habe einfach nicht dran gedacht!«
»So, so«, höhnte Jabril. »Du hast auf See nichts zu suchen, wenn du nicht mal die einfachsten Regeln und Gebote kennst! Wegen deiner Nachlässigkeit ist dieses Schiff verflucht! Wir haben Glück, dass wir überhaupt noch am Leben sind, wir, die jetzt hier an Deck stehen. Ein paar Kameraden hat es erwischt. Fünf Männer haben für deine Sünden gebüßt! Weil
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