Süsse Sehnsucht Tod
deiner Welt wirklich hält? Die Eltern? Nein, bestimmt nicht. Auch keine Geschwister. Ist es ein Mann? Du bist solo. Ist es dein Beruf, der dich immer so gestreßt hat? Sei froh, wenn du ihn los bist. Es lohnt sich nicht mehr, so zu arbeiten. Was ist dein Lohn? Geld, ich weiß, aber der Lohn bei mir ist ein ganz anderer und mit dem Geld nicht aufzuwiegen. Ich sage dir, daß es bald viele Menschen sein werden, die den Weg zu uns finden. Du bist nicht die einzige, aber du möchtest sicher unter den ersten sein, und ich weiß, daß du die Todessehnsucht bereits in dir spürst.«
Der letzte Satz war so bei Iris angekommen, als wollte er keinen Widerspruch dulden. Und sie widersprach tatsächlich nicht, obwohl sie bereits den Mund geöffnet hatte. Da war plötzlich die Schranke aufgebaut worden, und Iris Cramer dachte intensiver darüber nach.
Sie kam zu einem eigentlich erschreckenden Entschluß. Mandy hatte recht. Ja, es stimmte. Die Sehnsucht nach dem Tod war urplötzlich da.
Als wäre sie ihr in den letzten Sekunden eingeimpft worden. Zuerst als ein stilles Wasser, dann aber brodelte sie auf und wurde zu einer gewaltigen Woge, von einer Peitsche zusätzlich angetrieben. Mandy hatte recht. Was ließ sie schon zurück?
Keinen Menschen, der echt um sie trauern würde – und diese verdammte Bude. Mehr nicht.
Nur ein kleiner Schritt, und sie war bei Mandy.
Iris drehte den Kopf. Sie schaute aus dem Fenster. Draußen war der Tag dabei, sich zu verabschieden. Das hohe Haus stand in einer seltsamen Luft. Sie war grau, aber auch von weißen Flecken durchbrochen, und es ging kaum ein Wind.
»Hast du dich entschieden, Iris? Du mußt es tun. Ich habe dich gerufen. Ich habe mich um dich gekümmert. Eddy muß andere Aufgaben übernehmen, aber ich durfte dich rufen. Ist das nicht eine wunderbare Belohnung, meine Liebe?«
»Kann sein.«
»Nein, sie ist es. Tu dir diesen Gefallen. Komm zu mir. Die Welt wird sich dir öffnen.«
»Und dann?«
»Wird es herrlich sein. Was du bisher an Sorgen kennengelernt hast, kannst du vergessen. Ich habe es auch getan. Ich bin in der Nacht gegangen und habe mich in die Zinken einer sich rasend schnell drehenden Kreissäge hineinfahren lassen. So starb ich, aber du kannst dir eine andere Möglichkeit aussuchen.«
»Welche denn?«
»Das überlasse ich dir.«
Iris überlegte. Sie nagte an ihrer Unterlippe. Zahlreiche Gedanken huschten durch ihren Kopf, formierten sich zu Ideen, wurden wieder verworfen, fanden neue Gebiete, bis sie plötzlich nickte. Ein Zeichen, daß sie einen Entschluß gefaßt hatte.
»Und?« fragte Mandy aus dem Unsichtbaren hervor. »Hast du dich endlich entschieden?«
Iris Cramer nickte, obwohl Mandy es nicht sehen konnte. Sie mußte es einfach tun. »Sag es mir, Iris.«
»Ich, ich habe schon immer fliegen wollen. Es ist ein alter Traum von mir gewesen. Ich wollte durch die Luft segeln, einfach fort von hier.«
»Sehr gut, und weiter?«
»Ich werde in den Tod fliegen«, flüsterte Iris. »Ich fliege dir und ihm einfach entgegen.«
»Gut, tu es.«
Iris überlegte noch. Sie bewegte ihren Kopf. Ihr Gesicht war starr geworden. Mit ihren Gedanken war sie bereits in dieser anderen Welt, wo Mandy auf sie wartete. »Ich möchte weit und lange fliegen«, flüsterte sie. »Erst hoch, dann sehr tief. Von einem Dach.«
Das Lachen war laut und schrill. »Sehr schön.« Die Stimme schickte ihr Einverständnis. »Dazu kann ich dir nur gratulieren, Iris. Wenn du es wirklich willst, dann mach es. Aber tu es schnell. Überleg nicht mehr lange. Beeil dich, und du wirst feststellen, daß alles nicht so schlimm ist. Wunderbar wird es sein.«
»Meinst du?«
»Klar. Ich kenne es.«
Die Frau nickte. »Ja, Mandy, du hast mich überzeugt. Ich werde es tun. Niemand soll mich davon noch abhalten.«
»Tu es, wenn es dir Freude macht und du es dir so sehr wünschst.«
Iris hob den Kopf, als könnte sie Mandys Gesicht an der Decke erkennen. »Freust du dich auf mich?«
»Sehr.«
»Dann wirst du mich abholen, wenn sich mein Geist vom Körper gelöst hat? So haben viele gesprochen, die zurückkamen.«
»Ich komme, wenn du mich brauchst. Aber du wirst mich nicht benötigen, denn du wirst frei sein. Endlich frei, richtig frei. Du hast dann keine Sorgen und Nöte mehr für dich. Die Welt wird sich völlig verändern. Du kannst wieder tief durchatmen, und du wirst vor allen Dingen glücklich sein.«
»Das möchte ich auch, Mandy.«
»Dann komm zu mir. Mehr sage ich nicht mehr, denn ich
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