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Sumerki - Daemmerung Roman

Titel: Sumerki - Daemmerung Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Dmitry Glukhovsky
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erinnere mich, dass ich damals kurz vor der Erkenntnis stand. Möglicherweise wäre ich noch vor dem Ende der Sokolnitscheskaja-Linie daraufgekommen (meine eigene Station, die Leninbibliothek, hatte ich in meinem Verschwörungseifer natürlich verpasst).
    Was mich daran hinderte, war dieser Junge.
     
    Wahrscheinlich hatte er mich schon seit einiger Zeit so angesehen: finster, misstrauisch und so konzentriert, dass ich mich sofort wunderte, warum ich seinen schweren Blick nicht schon früher gespürt hatte.

    Sein Alter schätzte ich auf höchstens fünf, doch auf dem rosigen Gesicht war nichts zu sehen von jener fröhlichen Sorglosigkeit und Unmittelbarkeit, die den Erwachsenen im Spiel mit den Kleinen so viel Freude und Trost bereitet. Im Gegenteil, ich hatte eher den Eindruck, dass mich von der Sitzbank gegenüber ein weiser alter Mann musterte, längst erschöpft und enttäuscht vom Leben. Sofort musste ich an Seelenwanderung denken, obwohl ich bisher stets der Versuchung widerstanden hatte, an diese Theorie zu glauben.
    Er saß fast reglos da bis auf die Tatsache, dass er eines seiner kraftlos herabhängenden Beine hin und her baumeln ließ. Es sah so aus, als wolle dieser Jemand, der in dem jugendlichen Körper wohnte, möglichst altersgemäß und natürlich wirken, doch was dabei herauskam, war linkisch und zuckend, genau wie die Holzpuppen der Knorosowa.
    Als ich seinen starren Blick entgegnete, reagierte der seltsame Junge keineswegs überrascht, sondern nickte nur leicht, wie für sich, ganz so, als sei er zufrieden damit, dass er sein Ziel erreicht hatte. Zuerst sah ich wieder weg und beschloss, dem Kind seine Taktlosigkeit nicht zu verübeln, doch schon nach kurzer Zeit hielt ich es nicht mehr aus und sah noch einmal hinüber - nur um erneut auf seine zusammengekniffenen Augen zu stoßen. Offenbar dachte er gar nicht daran, den Blick zu senken. Mir wurde unbehaglich zumute, und ich begann auf dem Sitz hin und her zu rutschen wie ein Schüler, der etwas ausgefressen hat und nun aufmerksam von seinem Lehrer beobachtet wird.
    Warum wiesen ihn seine Eltern nicht zurecht? Hilflos drehte ich den Kopf in alle Richtungen auf der Suche nach
einem Erwachsenen in der Nähe. Doch keiner schien zu ihm zu gehören. Die Leute links und rechts schienen nichts mit ihm zu tun zu haben, ja sie bemerkten ihn nicht einmal.
    Einfach die Flucht zu ergreifen und das Schlachtfeld einem derart ungleichen Gegner zu überlassen, das war mir dann doch zu peinlich. Bis zur nächsten Station würde ich es schon aushalten. Erst dann würde ich mich in aller Ruhe erheben und gemessenen Schrittes den Wagen verlassen.
    Der Tunnel kam mir an diesem Tag mindestens viermal so lang vor wie sonst. Noch nie hatte ich so ungeduldig den nächsten Halt herbeigesehnt. Ich stand kurz davor, mein kleines Manöver aufzugeben, die Segel zu streichen und mich einfach in einer entfernten Ecke des Wagens zu verstecken. Schon hatte ich meine Zeitungen gepackt und wollte eben aufstehen, als der Junge zu sprechen begann.
    Es bestand kein Zweifel, dass er zu mir sprach. Das Schlagen der Räder und der Lärm des Tunnels machten es unmöglich auch nur ein Wort zu verstehen. Ich konnte nicht einmal erraten, was er mir sagen wollte. Sein Gesichtsausdruck blieb unverändert, nur sein Mund öffnete und schloss sich lautlos. Dabei versuchte er gar nicht, das Lärmen des Zuges zu übertönen. Nun wollte ich unbedingt hören, was er sagte, und ich deutete auf meine Ohren, um ihm zu verstehen zu geben, dass ich nichts verstand, doch der Junge reagierte überhaupt nicht auf meine Geste.
    Endlich flog der Zug in die Station Universität ein, der Lärm nahm ab, und ich konnte seine Stimme hören: Sie klang ungewöhnlich tief und erwachsen, sogar etwas heiser. Ein Schauder lief mir über den Rücken, und zugleich wandten
sich sämtliche Passagiere, die in der Nähe saßen, verblüfft dem Jungen zu.
    »… ihn zu finden. Denn die Not der Welt liegt darin, dass ihr Gott siech darniederliegt, und somit auch die Welt vergeht. Der Herr liegt im Fieber, und ebenso fiebert seine Schöpfung. Gott stirbt, und mit ihm stirbt alles, was er erschaffen hat. Doch es ist noch nicht zu spät …«
    Die letzten Worte gingen in einer Ansage unter. In diesem Augenblick kam die alte Frau zu sich, die neben dem Jungen gesessen und zerstreut ins Leere gestarrt hatte. Sie nahm ihn an der Hand, sagte streng: »Aljoschka, sei brav!«, und zog ihn entschlossen zur Tür. Er widersetzte sich nicht,

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