Sumerki - Daemmerung Roman
immer noch nicht, doch dafür lag bei mir im Flur ein geografischer Atlas auf dem Boden, herausgegeben Mitte der sechziger Jahre von der Akademie der Wissenschaften der UdSSR. Mit seinem riesigen Format hatten ihn seine Autoren gewissermaßen zu einem unwürdigen Aufbewahrungsort verdammt, denn er hätte niemals in irgendein Bücherregal gepasst; folglich staubte er einfach auf dem Parkett neben einem Schrank vor sich hin. In der Höhe maß er etwa einen Meter, was das Umblättern zu einer beschwerlichen Sache machte. Jede seiner Seiten bot genaueste Reliefkarten der jeweiligen Region - so auch von Yucatán.
Warum war mir dieser Gedanke nicht schon früher gekommen? Nun konnte ich die Route verfolgen, auf der sich die Spanier bewegten. Selbst wenn diese Karte erst Jahrhunderte nach der geschilderten Expedition gezeichnet worden war, hatte sich die Landschaft seither sicher kaum verändert. Natürlich hatte man inzwischen Tausende von Hektar Wald für den Maisanbau und die Viehwirtschaft gerodet, doch die Position der Flüsse und Berge dürfte noch stimmen.
Mit einer frischen Tasse Tee ließ ich mich vor dem aufgeschlagenen Atlas auf dem Boden nieder, legte für alle Fälle Kümmerlings Geheimnisse daneben, das ebenfalls ein paar Karten mit alten Städten und archäologischen Sehenswürdigkeiten enthielt, und machte mich gemeinsam mit den fünfzig spanischen Soldaten von Maní auf den Weg in die unerforschten Gebiete im Südwesten.
Natürlich gab es zu der Zeit, als wir die alte Hauptstadt der Maya verließen, bereits Karten von Yucatán. Hernán Cortés hatte schon Jahrzehnte zuvor die Azteken im Tal von Mexiko unterworfen, indem er ihrer animalischen Grausamkeit und List mit noch größerer Brutalität, Heimtücke und Untreue begegnete. Danach war er noch viele Jahre durch Mittelamerika gezogen, um Aufstände niederzuschlagen, zu rauben, zu vergewaltigen und den Heiden die Macht der spanischen Krone und der katholischen Kirche zu verkünden.
Kümmerling erwähnte außerdem einen gewissen Pedro de Alvarado, auf den sich ja auch der Autor des seltsamen Berichts bezogen hatte. Dieser Konquistador war berühmt für die Unterwerfung indianischer Stämme in Guatemala und anscheinend auch Honduras, von wo aus er - über die Anden - bis nach Yucatán vordrang.
Beide, Cortés und Alvarado, hatten bei ihren Feldzügen Kartografen mitgenommen, so dass einige dieser Gegenden nach vierzig Jahren bereits relativ gut erforscht waren. Südlich von Maní jedoch begann offenbar eine so undurchdringliche Wildnis, dass selbst die Ureinwohner der Halbinsel sich nur äußerst selten dorthin aufmachten.
Noch einmal las ich das zweite Kapitel des Berichts am Schreibtisch und verglich es mit den Karten in den Geheimnissen . Eine seltsame Unruhe ergriff mich. Ich legte Kümmerlings Karten nacheinander neben die glatte, nur im Süden von einigen Gebirgszügen leicht gekräuselte, gelbbraune Fläche Yucatáns auf den riesigen Seiten meines Atlas.
Vergeblich.
In der Gegend, in die Juan Nachi Cocom und Hernán González die restlichen dreißig Spanier führten, gab es keine alte Stadt, ja nicht einmal eine nennenswerte indianische Siedlung. Es schien, als sei die Zivilisation nie über jenes Dorf namens Hochob hinausgekommen, das ich erst nach einigem Suchen auf der Karte entdeckte.
Wenn diese Gegend selbst im 20. Jahrhundert kaum erschlossen war, konnte sich dort im 16. nichts anderes als ursprüngliche, wilde Selva erstreckt haben. Tausende Quadratkilometer, durchzogen von trüben Bächen und fauligen Mooren, voller unsichtbarer Gefahren, bereit jeden zu verschlingen, der es wagte, dort einzudringen.
»Eine Falle!«, schrie ich fast.
Die indianischen Wegführer hatten es gewusst, so viel stand fest. Gleich dem Bauern Iwan Sussanin, der Zar Michail vor den polnischen Interventen gerettet hatte, indem er diese in ein undurchdringliches Sumpfgebiet führte, hatten die Indios die ihnen anvertrauten Fremden in eine unerforschte, tödliche Gegend gelockt, auf die Gefahr hin, gemeinsam mit diesen unterzugehen. Juan Nachi Cocom hatte gelogen, seine Tränen waren falsch gewesen.
Doch was hatte die getauften Indios, denen der Guardian des Klosters von Izamal wie seinen eigenen Kindern vertraute,
dazu bewegt, diesen Auftrag anzunehmen, um sodann ihren geistigen Mentor wie auch die ganze von ihm ausgesandte Expedition zu verraten? Sussanin hatte 1613 sein Leben geopfert, um die Zarenfamilie vor den andersgläubigen Eroberern zu retten; das
Weitere Kostenlose Bücher