SUMMER DAWN (Sommerdämmerung) (German Edition)
eindeutig nach einem Raben klang, einen gewaltigen Schreck einjagte.
Rascheln von Gefieder. Merkwürdig! Ein zweites Krächzen. Die schwarzen Vögel in der Baumkrone da oben haben wohl eine kleine Meinungsverschiedenheit. Oder eine Katze hat ihnen die Nachtruhe verdorben. Auf jeden Fall kein Grund, um so zu erschrecken, alter Junge!
Kalter Schweiß trat auf seine Stirn. Er suchte weiter.
Eine weitere Viertelstunde später hatte er ein Grab mit einem mächtigen weißen Marmorquader entdeckt, das die Inschrift «Julie Renard» trug.
Wer sagts denn!
Tony trat ruckartig einen Schritt zurück, hielt einen Moment inne, unfähig sich dem Grab erneut zu nähern. Er hatte ein beklemmendes Gefühl in der Brust, eine Kälte umgab sein Herz.
Jetzt reiß dich zusammen, Carl hat dich nicht ohne Grund hierher geschickt!
Zögerlich begutachtete er den Gedenkstein. Das Todesdatum lag zehn Monate zurück, das Alter der Toten passte ebenfalls zur Schätzung, die Tony aufgrund des Bildes gemacht hatte.
Links und rechts vom Grab befanden sich Blumen, welche vor sich hin welkten.
Rosen und Orchideen .
Am Fuß des Marmorgrabsteins steckte ein Strauß Lilien in einem schlanken vasenähnlichen Gefäß, das ein Teil des Grabsteins war. Es war aus demselben Stück Stein gehauen wie der Grabstein selbst, eine Art Skulptur, die sich aus der der filigranen Steinmetzarbeit herausschälte. Es gab mehrere solcher Vertiefungen. Tony ging näher heran. Diese Lilien schauen irgendwie zu frisch aus. Sie haben ihre Blätter noch. Entweder kommt hier jeden dritten Tag jemand vorbei und wechselt nur die Lilien aus, oder sie sind nicht echt.
Tony kramte das Foto der Frau hervor; er unternahm alles, um das Bild nicht mit seinem schweren Feuerzeug zu versengen, und versuchte gleichzeitig, die Regentropfen mit dem Schirm wegzuhalten. Er flüsterte die Worte wie eine Beschwörung vor sich hin.
«Meine liebste Julie,
Orchideen und Rosen welken dahin;
einzig die weiße Lilie so lieblich und fein,
währt für immer wie dein Anmut in meinem Herzen.
In ewiger Liebe
Carl.»
Nachdem er das Foto wieder in die Sicherheit seiner Westentasche verstaut hatte, entfernte er mit der linken Hand die Lilien aus der Vertiefung. Die Stiele der künstlichen Gewächse waren fast so lang wie sein Arm und an den Enden schlammig und voller kleiner Käfer.
Stoffblumen. Aber was für welche, kaum von echten zu unterscheiden. Nicht mal für die Kriecher.
Seine rechte Hand näherte sich der dunklen Vertiefung im Marmor. Er konnte kaum etwas erkennen.
Oh Gott. Wie ich das hasse! Tony schloss die Augen, überwand sich und griff hinein. Seine Hand verschwand bis fast zum Anschlag in der Öffnung, spürte etwas Nasses und Gekrabbel.
Wasser. Ungeziefer. Ugh! Moment. Da liegt etwas im Wasser. Plastik. Ein Beutel. Etwas Festes darin.
Er bekam es zu fassen und zog es heraus.
Es regnete nicht länger, nur noch vereinzelte Tropfen zerplatzten auf dem Kiesboden der Friedhofswege.
Tony öffnete die Plastikhülle des Päckchens in seiner Hand und betrachtete den Inhalt. Es war ein kleines Buch, vor der Nässe geschützt durch die Schichten der Kunststofftüte, mit welcher es mehrfach umgewickelt war. Tony schüttelte das restliche Wasser vom Umschlag und steckte es in die andere Innentasche seines Mantels. Anschließend setzte er die immerschönen Lilien zurück in die Vertiefung beim Grabstein.
Er wickelte das Buch aus dem Plastikbeutel. Er kannte das Cover.
A Tree Grows In Brooklyn. Eine Ausgabe aus dem Jahr 1979. Genau identisch mit meiner. Längst vergriffen. Mutter hat uns damals je ein Exemplar geschenkt, da sie wusste, wir würden uns sonst darum zanken. Kein Zweifel. Dieses Buch hat Carl gehört.
Tony öffnete das Buch und betrachtete die Widmung auf der Innenseite des Deckels.
Niemals hätte ich mein Exemplar weggegeben. Und er seines ebenfalls nicht. Eines der wenigen übriggebliebenen Andenken an unsere Mutter. Was ist bloß vorgefallen, das ihn dazu getrieben hat, das Buch für eine Nachricht an mich zu opfern?
Er wickelte das Buch wieder in die Plastikhülle, um es vor dem Regen zu schützen, und steckte es in seine Manteltasche.
Nichts wie weg hier!
6
Im Haus an der Rue Rodier brannte kein Licht mehr.
Sophie liegt wohl schon im Bett und schläft den Schönheitsschlaf der gerechten französischen Aristokratendamen, um ihre körperlichen Vorzüge zu hegen. Hätte nichts dagegen, mich zu
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