Tagebuch eines Vampirs 8 - Jagd im Abendrot
ausblendete, diese goldenen Locken,
die wie ein Heiligenschein über dem Kopf der Gestalt geglänzt hatten …
Stefano wusste, dass er bei Elena sein sollte. Er wollte nichts anderes,
als sie beschützen.
Aber sie hatte ihn weggeschickt, hatte ihm – zumindest verbal – den
Kopf getätschelt und ihm wie einem treuen Wachhund befohlen, zu
bleiben und auf jemand anderen aufzupassen. Jemand anderen zu
beschützen. Ungeachtet dessen, dass sie offensichtlich in Gefahr schwebte,
dass irgendjemand – irgendein er – sie wollte. Trotzdem wollte sie nicht,
dass Stefano in diesem Moment bei ihr war.
Was will Elena eigentlich? Jetzt, da Stefano darüber nachdachte, schien
es ihm, als wollte Elena eine ganze Menge von Dingen, die nicht zusam-
menpassten. Sie wollte Stefano als ihren loyalen Ritter – was er auch im-
mer, immer sein würde, beteuerte er im Stillen und ballte die Faust.
Aber sie wollte auch an den Erinnerungen an Damon festhalten und ihre
gemeinsame Vergangenheit mit niemandem teilen – auch nicht mit
Stefano.
Und sie wollte noch so vieles mehr: Sie wollte die Retterin ihrer Freunde
sein, ihrer Stadt, ihrer Welt. Sie wollte geliebt und bewundert werden.
Alles unter Kontrolle haben.
Und sie wollte wieder ein normales Mädchen sein. Nun, dieses normale
Leben, das sie einst geführt hatte, war für immer zerstört worden, als sie
Stefano begegnet war – und er sich dafür entschieden hatte, sie in seine
Welt zu lassen. Er wusste, dass alles seine Schuld war, alles, was danach
geschehen war. Aber er bedauerte es nicht, dass sie jetzt bei ihm war. Er
liebte sie zu sehr, um etwas zu bereuen. Sie war der Mittelpunkt seiner
Welt – auch wenn er wusste, dass er für sie nicht dasselbe war.
Die Sehnsucht brannte regelrecht in ihm, und er rutschte wieder rastlos
auf seinem Stuhl herum. Seine Reißzähne wurden länger. Er konnte sich
nicht daran erinnern, wann er sich das letzte Mal so gefühlt hatte, so …
falsch. Er bekam das Bild von Caleb nicht aus dem Kopf, wie er von der
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Klippe auf sie heruntergeschaut hatte – als wolle er feststellen, ob das Un-
heil, das er anrichten wollte, auch eingetroffen war.
»Noch etwas Tee, Stefano?«, fragte Mrs Flowers ihn leise und unter-
brach damit seine wütenden Gedanken. Sie beugte sich mit der Teekanne
über einen kleinen Tisch, und ihre großen blauen Augen beobachteten ihn.
Ihr Gesicht war so voller Mitgefühl, dass er sich fragte, was sie in ihm sah.
Diese alte weise Frau schien so viel mehr wahrzunehmen als alle anderen;
vielleicht konnte er ihr erzählen, wie er sich jetzt fühlte.
Er begriff, dass sie immer noch höflich auf seine Antwort wartete, die
Teekanne in einer Hand, und er nickte automatisch. »Vielen Dank, Mrs
Flowers«, sagte er und hielt ihr seine Tasse hin, die zur Hälfte noch mit
kaltem Tee gefüllt war.
Eigentlich mochte er den Geschmack normaler menschlicher Getränke
nicht besonders; aber manchmal gaben sie ihm das Gefühl, in diese Welt
zu gehören. Und auch die anderen um ihn herum entspannten sich dann
ein wenig. Er konnte spüren, dass Elenas Freunde etwas unruhig wurden,
wenn er gar nichts aß oder trank, dass sich ihre feinen kleinen Nacken-
härchen aufstellten, während eine unbewusste Stimme in ihnen bemerkte,
dass er nicht wie sie war. Und er konnte spüren, wie sie dies auf die Liste
mit all den anderen kleinen Unterschieden setzten und daraus den Schluss
zogen, dass mit ihm etwas nicht stimmte.
Mrs Flowers füllte seine Tasse auf und setzte sich zufrieden wieder hin.
Sie griff nach ihrem Strickzeug – etwas Rosafarbenem, Flauschigem – und
lächelte. »Es ist so schön, euch junge Leute hier versammelt zu haben«,
bemerkte sie. »Ihr seid so eine liebenswerte Gruppe.«
Als Stefano zu den anderen hinüberschaute, fragte er sich unwillkürlich,
ob in Mrs Flowers Worten ein sanfter Sarkasmus lag.
Alaric und Meredith waren aus dem Krankenhaus zurückgekommen, wo
an Meredith’ Knöchel eine harmlose Verstauchung diagnostiziert worden
war, bevor ihr die Krankenschwester in der Notaufnahme einen Verband
angelegt hatte. Meredith’ Gesicht war angespannt, was zumindest zu
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einem Teil an dem Schmerz und ihrem Ärger darüber lag, dass sie ihren
Fuß einige Tage nicht belasten durfte.
Und zum anderen Teil, vermutete Stefano, lag es wohl daran, wo sie saß.
Aus irgendeinem Grund hatte Alaric, nachdem er ihr geholfen hatte, ins
Wohnzimmer und zum Sofa
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