Tal der Tausend Nebel
letztes Mal versuchte sie, ihn anzulächeln, während sie gegen die bleierne Müdigkeit ankämpfte, die in ihren Nacken kroch. Sanft zog er das Laken höher und breitete eine leichte Decke über sie.
»Das Pulver beginnt zu wirken. Du solltest jetzt schlafen, damit die Träume zu dir kommen können. Du brauchst sie, du brauchst deine Träume, damit du mich wiederfinden kannst.«
Sie wollte wissen, was er damit meinte. Ein letztes Mal griff sie nach seiner Hand, die ihr so viel Vergnügen bereitet hatte. Sie küsste schläfrig jeden einzelnen seiner Finger. Als sie fertig war, hielt sie wie ein kleines Kind seine Hand fest. Ihre Stimme war kaum noch hörbar, und jedes Wort strengte sie an. Dennoch musste sie reden.
»Lass mich jetzt nicht allein … bleib einfach bei mir … lass uns zusammen sein, irgendwo … wir müssen einfach zusammen sein, das fühle ich.«
Keanu nickte traurig, aber sie wusste, dass er nicht bleiben würde. Er wartete nur darauf, gehen zu können, denn er musste sein Flugzeug nach Paris erreichen. Er wartete darauf, dass Tausend Nebel sie mitnehmen würde in eine andere Welt. Seine Worte waren lediglich dazu da, um sie zu beruhigen.
»Wir werden uns wiedersehen … ich schreibe dir. Ich melde mich.«
Sicher waren das nur hohle Worte. Er gehörte einer anderen, dachte sie bedrückt. Deshalb war es auch so unendlich schwer für sie, sich mit diesem Abschied abzufinden. Sie bekämpfte die wachsende Schwere, die sich auf ihre Augenlider legte, denn sie wollte ihm noch etwas sagen. Aber wie sagt man einem Mann, der eine andere liebt, am besten, was man für ihn empfindet? Sie sollte besser nichts sagen, dachte sie, aber vielleicht später etwas für ihn aufschreiben. In dem schläfrigen Nebel, der immer schneller in ihren Kopf stieg, drangen die letzten Worte, die sie ihm noch sagen musste.
»Nimm deine Zeichnung mit …«
Sie hatte ihm ihre Zeichnung von dem Hai geschenkt. Nach ihrer Nacht im Meer war sie entstanden. Als Andenken an sie sollte er sie mitnehmen. Er nickte. Seine Hand entzog sich ihrer bereits.
Sie sah mit halb geschlossenen Augen, wie er ihre Zeichnung vom Tisch nahm, zusammenrollte und in die Innentasche seiner Jacke steckte. Maja konnte sich nicht länger gegen den Schlaf wehren. Aber sie konnte diesen Mann auch nicht so gehen lassen. Sie wollte es nicht. Einmal nur wollte sie die Worte sagen, die heiß in ihrem Inneren brannten. Aber sie sagte sie leise, so leise, dass er sie nicht hören konnte.
»Ich liebe dich … auch wenn es unmöglich ist. Es tut mir leid … ich wünsche dir alles Gute mit Leilani … nein, das stimmt nicht. Ich will dich für mich … für mich ganz allein.«
Natürlich antwortete er nicht. Er hatte bereits das Zimmer verlassen. Maja hörte noch, wie die Haustür hinter ihm ins Schloss fiel.
Keanu war weg. Er hatte ein Flugzeug zu erreichen. Am anderen Ende der Welt wartete seine Freundin auf ihn. Er hatte Leilani nie zuvor betrogen, hatte er ihr gesagt. Sie hatte ihm sofort geglaubt. Er war kein Mann, der Frauen anlog oder sie betrog, das spürte sie. Sein schlechtes Gewissen seiner Freundin gegenüber war spürbar.
Maja befühlte mit schwerer Hand ihre Lippen, geschwollen von verzweifelten Küssen. Er hatte sie in ihrem Innersten angerührt. Ihr Kopf lag bleiern auf dem seidenen Kissen, das nach ihrer Liebe roch.
Ob er es Leilani wohl erzählen würde? Ob Maja mit Stefan je darüber sprechen konnte? Auch sie hatte davor noch nie einen ihrer Freunde betrogen. Sie hatte keine Ahnung, wie sie es Stefan beibringen sollte. Vielleicht würde es besser sein, mit einer Lüge zu leben? Vielleicht.
In einem letzten verzweifelten Aufbäumen schleuderte sie das Liebeskissen zu Boden. Da sah sie ihn. Der Haifischzahn an dem Lederband, mit dem alles begonnen hatte, lag unter ihrem Kissen. Hatte er ihn mit Absicht dort liegen lassen? War er ein Geschenk, ein Liebespfand?
Maja fühlte trotz der Schwere durch das Pulver mit einem Mal so etwas wie Glück, sogar Euphorie. Für sie war diese Begegnung ein neuer Anfang. Durch Keanu hatte sie erfahren, wie es ist, wenn zwei Menschen wirklich zueinander gehören, Körper und Seele.
Das war die Liebe, lächelte sie, als ihr die Augen zufielen. Dann trug Tausend Nebel sie mit sich fort.
9. Kapitel
In der Grotte, 1894
Als Elisa versuchte, sich in ihrem Felsversteck im Wasser daran zu erinnern, was genau man ihr angetan hatte, machte sich eine merkwürdige Dumpfheit in ihrem Kopf breit. Dann begann alles zu
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