Talitha Running Horse
mussten wir mit dem wenigen zurechtkommen, dass er jetzt monatlich an Sozialhilfe bekam. Dad saà meist in der Nähe des gusseisernen Ofens und baute Traumfänger oder schnitzte Figuren aus Stein oder Horn. Die brachte er nach Rapid City in einen groÃen Souvenirladen. Geld bekam er allerdings dafür erst, wenn eines seiner Stücke auch tatsächlich verkauft worden war. Und im Winter gab es nur wenige Touristen, die sich nach Rapid City verirrten.
Weihnachten verbrachten wir zusammen mit Adena und ihren Eltern. Ein paar von Dads kunsthandwerklichen Stücken waren in der Vorweihnachtszeit verkauft worden, sodass wir wenigstens nicht ohne Geschenke erschienen.
Danach kam kein Extrageld mehr herein. Wir hatten gerade genug, um unsere Mägen zu füllen und für Strom- und Telefonkosten aufzukommen, aber für Extratouren mit dem Auto reichte es nicht. Ich bekam die Pferde wochenlang nicht zu sehen.
Einmal â es war Anfang März, war meine Sehnsucht so groÃ, dass ich nach der Schule meinem Vater einen Zettel schrieb und mich an die StraÃe stellte. Bald hielt jemand, der auf dem Weg nach Pine Ridge Village war und mich bis Wounded Knee mitnehmen konnte. Als der Mann hörte, wohin ich wollte, brachte er mich bis vor Toms Haustür, obwohl er dafür einen Umweg machen musste. Er war ein ehemaliger Polizist und lieà es sich nicht nehmen, bei Tom zu klopfen, um mich persönlich zu übergeben.
Dass ich getrampt war, gefiel Tom und Della überhaupt nicht. Sie fürchteten, dass ich vielleicht zu einem Betrunkenen hätte ins Auto steigen können oder zu jemandem mit bösen Gedanken. Tom brachte mich später in seinem Pick-up zurück nach Porcupine. Es war erst fünf Uhr nachmittags, aber es wurde schon dunkel.
»Dein Vater hat vorhin angerufen, Tally. Er hat sich groÃe Sorgen um dich gemacht. Ich weià ja, dass es schwer für dich ist, die Pferde nur so selten zu sehen«, sagte Tom während der Fahrt. »Aber du riskierst dein Leben, wenn du dich einfach an die StraÃe stellst. Es gibt immer mehr Jugendgangs im Reservat, und sobald es dunkel wird, beginnt ihre Zeit. Diese Kids sind gefährlich, Tally. Es ist schon zu viel passiert, denk an Neil. Versprich mir, dass du nicht mehr versuchst zu trampen.«
Schweren Herzens versprach ich es ihm. Und mir wurde ganz flau im Magen, wenn ich an meinen Vater dachte.
Nachdem Tom mich zu Hause abgeliefert hatte, verschwand ich gleich in meinem Zimmer. Tom und Dad saÃen noch eine Weile zusammen, tranken Kaffee und unterhielten sich. Ich wollte nicht lauschen, aber ab und zu hörte ich Marlins Namen fallen.
Mein Vater schimpfte nicht mit mir. Er war mir auch nicht böse. Ich musste ihm lediglich versprechen, dass ich mich nicht wieder an die StraÃe stellen würde. Und so versprach ich es ein zweites Mal.
12. Kapitel
Nur ein paar Tage später kam Kenny Shortbull in unsere Schule, ein junger Officer von der Stammespolizei, der uns und die Lehrer vor verschiedenen Jugendbanden warnte, die zunehmend das Reservat unsicher machten.
»Allein in Pine Ridge Village gibt es ein Dutzend«, sagte er. »Sie nennen sich Outlaws, Wild Boyz, Nomads, Aimster Gangsta und Wild Girls. Man erkennt sie an ihrer Kleidung, weil bestimmte Farben auf die Zugehörigkeit zu einer Gang hinweisen. Rot und Schwarz zum Beispiel.«
Alle lachten und zeigten auf Mrs Turnbull. Sie trug schwarze Jeans und einen roten Pullover. Unsere Klassenlehrerin wurde erst verlegen, aber dann sagte sie kokett: »Wild Girls.« Und alle lachten noch einmal.
»Genug gelacht«, unterbrach der Officer das Gelächter. »Das alles ist sehr ernst, und deshalb bin ich auch hier. Ihr dürft nicht wegsehen. Ihr müsst den Mut aufbringen, es zu melden, wenn euch jemand verdächtig erscheint.«
Shortbull erzählte, dass es auch an den Schulen Gangmitglieder gab. »Auf dem Pausenhof dealen sie mit Drogen und nutzen die Werkstunden, um sich Waffen zu basteln. Ein Mathelehrer aus der Senior High von Pine Ridge Village, der sich ihnen offen entgegengestellt hat, ist kurz nach Weihnachten erschossen aufgefunden worden. Er hinterlieà eine Frau und vier kleine Kinder.«
Ein dumpfes Gemurmel ging durch die Reihen.
Zwei Stunden lang erzählte Officer Kenny Shortbull genau, woran man Gangmitglieder erkennen konnte. An ihrer Kleidung, ihrem Haarschnitt, ihrer Musik, bestimmten Parolen oder Handzeichen. Die meisten
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