Tamuli 1 - Die schimmernde Stadt
und irgendwie sah es sehr vertraut aus.
»Ihr habt es abgeguckt, kleine Mutter«, sagte Kalten, als er Sephrenia aus der Kutsche half.
»Wie bitte?«
»Ihr habt Euer Haus Aphraels Tempel auf der Insel nachgebaut, die wir im Traum gesehen haben! Sogar der Portikus ist der gleiche.«
»Da mögt Ihr recht haben, Lieber, aber das ist hier so üblich. Alle Mitglieder des Rates von Styrikum geben gern mit ihren Göttern an. Das erwartet man sogar. Andernfalls wären unsere Götter gekränkt.«
»Ihr gehört dem Rat hier an?« fragte Kalten überrascht.
»Natürlich. Ich bin schließlich Aphraels Hohepriesterin.«
»Es kommt mir ein wenig ungewöhnlich vor, daß jemand aus Eosien zum Rat einer daresischen Stadt gehört.«
»Wie kommt Ihr darauf, daß ich aus Eosien bin?«
»Seid Ihr es nicht?«
»Natürlich nicht – und der Rat hier in Sarsos ist nicht nur für dieses Gebiet zuständig. Er trifft die Entscheidungen für alle Styriker, egal, wo sie sich befinden. Aber wollen wir jetzt nicht erst einmal ins Haus gehen? Vanion wartet auf uns.« Sie führte die Gefährten eine marmorne Freitreppe hinauf zu einer breiten, kunstvoll ziselierten Bronzetür, und sie traten ein.
Das Gebäude war um einen üppigen Innengarten mit einem marmoren Springbrunnen in der Mitte erbaut. Vanion hatte sich in einem Liegesessel neben dem Springbrunnen zurückgelehnt und sein rechtes Bein mit mehreren Kissen gestützt. Sein Fußgelenk war dick bandagiert, und er machte einen verärgerten Eindruck. Sein Haar und sein Bart waren nun silbern, doch sein Gesicht war faltenlos, und er sah sehr distinguiert aus. Die Sorgen, die ihn niedergedrückt hatten, waren von seinen Schultern genommen; doch das konnte wohl kaum für seine erstaunliche Veränderung verantwortlich sein. Selbst die Nachwirkungen der schrecklichen Bürde, die er getragen hatte, als er Sephrenia die Schwerter der toten Ordensritter abnahm, schienen fortgewischt. Sein Gesicht wirkte jünger als je zuvor. Er senkte die Schriftrolle, in der er gelesen hatte.
»Sperber«, fragte er gereizt, »wo seid Ihr so lange geblieben?«
»Auch ich freue mich, Euch wiederzusehen, Eminenz«, entgegnete Sperber.
Vanion blickte ihn scharf an; dann lachte er ein wenig verlegen. »Das war wohl ziemlich unfreundlich, nicht wahr?«
»Brummig, ausgesprochen brummig, Hochmeister«, antwortete Ehlana. Dann aber warf sie alle Würde ab, rannte zu ihm und schlang die Arme um seinen Hals. »Ihr habt Euch Unser Mißfallen zugezogen, Hochmeister Vanion«, erklärte sie in majestätischem Tonfall. Dann küßte sie ihn herzlich. »Ihr habt Uns in Unserer Stunde der Not Eures Rates und Eurer Gesellschaft beraubt!« Wieder küßte sie ihn. »Es war außerordentlich ungehörig, Euch ohne Unsere Erlaubnis von Unserer Seite zu entfernen.«
»Tadelt Ihr mich, oder heißt Ihr mich von Herzen willkommen, meine Königin?« fragte er ein wenig verwirrt.
»Beides, Eminenz.« Ehlana zuckte die Schultern. »Ich hab' mir gedacht, ich erledige am besten alles gleichzeitig, um Zeit zu sparen. Ich freue mich unendlich, Euch wiederzusehen, Vanion, aber ich war sehr unglücklich, als Ihr Euch wie ein Dieb in der Nacht aus Cimmura davongestohlen habt.«
»Das tun wir Diebe doch gar nicht!« protestierte Stragen. »Wenn man etwas gestohlen hat, benimmt man sich so unauffällig wie möglich. Sich davonzustehlen würde nur Aufmerksamkeit erregen.«
»Mischt Euch nicht ein, Stragen«, rügte Ehlana ihn.
»Ich habe ihn um seiner Gesundheit willen aus Cimmura fortgebracht«, erklärte ihr Sephrenia. »Er war dort dem Tod nahe. Ich wollte aus ganz persönlichen Gründen, daß er am Leben blieb, deshalb brachte ich ihn an einen Ort, wo ich ihn gesundpflegen konnte. Zwei Jahre lang ließ ich Aphrael keine Ruhe, bis sie schließlich nachgab. Ich kann sehr hartnäckig sein, wenn ich etwas will, und an Vanion hängt mein ganzes Herz.« Sie versuchte gar nicht mehr, ihre Gefühle zu verbergen. Die so lange verschwiegene Liebe zwischen ihr und dem pandionischen Hochmeister war nun kein Geheimnis mehr. Sephrenia machte auch keinen Versuch, die zweifellos nicht nur für elenische, sondern auch für styrische Begriffe skandalöse Beziehung zu vertuschen. Sie und Vanion lebten unverhohlen in Sünde, doch keiner der beiden ließ deshalb auch nur eine Spur von Reue erkennen. »Wie geht's deinem Knöchel, Liebster?« erkundigte sie sich.
»Er schwillt schon wieder an.«
»Habe ich dir nicht gesagt, du sollst ihn in ein Tuch mit Eis
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