Tastenfieber und Liebeslust
bitte um Verständnis, dass ich Sie damit so lange warten lassen muss, bis ich weiß, ob Sie mir wirklich zugetan sind. Ich verspreche Ihnen aber, dass ich auch bekleidet keine schlechte Figur abgebe. Ich freue mich auf eine Nachricht und grüße Sie herzlich
Marion
pockroy@ web.de
7. August – 22:16 Uhr
Liebe Marion,
vielen Dank für Ihre lange und informative Mail. Sie stellen viele Fragen, einige versuche ich zu beantworten.
Ich habe kein Wochenendritual. Mal treffe ich mich mit Freunden oder den Kindern, mal fummle ich in meinem Kellerlabor herum, mal setze ich meine Wohnungsrenovierung fort, mal suche ich in eBay.de oder eBauy.fr nach Empire, mal lese ich nur. Pas de système!
Ihre Aufzählung schlauer Kerlchen bringt mich etwas in Verlegenheit. Beardsley, vor allem den Lysistrata-Zyklus, liebe ich wegen der Eleganz der Formen und wegen seines Humors. Von Klimt verstehe ich nichts, ebenso wenig von Hofmannsthal. Ibsens nordisch-puritanisch-schwermütige Denkweise ist mir immer fremd geblieben.
Ich bin aber ein großer Freund von Griegs Peer Gynt, besonders Solvejgs Lied. Von den aufgeführten Komponisten, Ausnahme Wagner, der übrigens alles ist, bloß kein Fin-de-siècle-Vertreter, verstehe ich nicht so viel, um meinen Mund aufmachen zu dürfen.
Aber Dorian Gray ist schon wahnsinnig. Das ist Dekadenz, Lässigkeit und Dandytum pur und in Perfektion. Ich liebe den Titel eines tschechischen Films: ›Die unerträgliche Leichtigkeit des Seins‹. Der Film hielt allerdings nicht, was der wunderschöne Titel versprach.
Im Prinzip bin ich auch ein großer Bewunderer der Fin-de-siècle-Mentalität (Tschechow war’s genauso wenig wie Ibsen!). Die fast morbide Verfeinerung des Stils und der Lebensweise üben eine große Faszination auf mich aus. Mein bester Freund, Francois (hat sich leider totgesoffen) war ein Franzose (zweitbestes Examen am Polytechnikum 1964). Er hat mich sehr stark beeinflusst und mich an Formen der Verfeinerung herangeführt, die mir bisher fremd waren.
Vielen Dank für den Buchtipp. Vielleicht werde ich dem folgen, um ein adäquater Unterhalter zu sein. Vor wenigen Tagen las ich ›Die Schule der Lügen‹, es war beeindruckend, umfassend von dem Autor Wolfram Fleischhauer recherchiert, spannend geschrieben und blendend konstruiert, aber es war auch ›nur‹ ein Roman.
In wirklich guten Biografien, besser noch: In thematisch eng begrenzten Monografien fühle ich mich mehr zu Hause. Die Diskussionen in den Konzilien von Nicea und Chalcedon finde ich immer noch spannender als manchen Roman mit aktueller Beziehungskistenthematik.
Ich preferiere Mittwoch für einen Cabernet. Dienstags trinke ich nur trockene Rieslingsweine. Irgendein System muss der Mensch doch haben! Mit Wehmut, dass das zweite Foto nicht den Neuigkeitswert hatte wie das erste, bin ich mit lieben Grüßen
Ihr Maximilian
7. August – 22:40 Uhr
Mein geliebtes Evachen,
Dein Vorschlag, mich mit der Lehrerin in dem gleichen Lokal wie Du mit dem Historiker zu treffen, ist doch absurd! Was soll denn dabei schon herauskommen? Noch mehr Irrungen und Wirrungen! Ich gehe jetzt allein ins Bett und schlafe mich aus.
Schlafe auch mal früh ein und träume von mir so wie ich von Dir.
Dein Max
8. August – 02:12 Uhr
Mein süßer Schatz,
ich fand meinen Vorschlag gar nicht so schlecht! Du könntest von Deinem Tisch zu mir herübersehen und den Historiker begutachten, und ich täte das ebenso von meinem Tisch aus bei Deiner Lehrerin. Aber leider geht es nicht, denn der Historiker hat mir nicht mehr geantwortet. Ich wollte ihn nicht, das hat er natürlich gemerkt.
Was ich Dir aber bisher verschwieg: Ich korrespondiere schon längere Zeit und wesentlich intensiver mit einem Dramaturgen vom Berliner Max-Gorki Theater. Den würde ich gerne treffen, denn er schreibt originell und lustig. Da ich ihn sowieso mal kennenlernen will, böte sich mein Vorschlag erneut an! Was sagst Du dazu?
Es wäre eine kleine Inszenierung im Café Dollinger, von der nur wir beide wüssten! Das ist doch toll! Und Deine Lehrerin würde sich sicher auch freuen, zumal Du ihr ja kaum und dann nur wenig und ganz kurz schreibst, wie Du mir gesagt hast. Also los!
Lass uns das kleine Abenteuer wagen!
Claudio hat heute den ersten Gehversuch gemacht. Er schleppte sich, das Bein nachziehend, über den Boden. Ein Jammerbild. Aber ich denke, ab morgen kann er sein Geschäft wieder vor dem Haus am Baum machen. Gott sei Dank
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