Tatsache Evolution
Anerkennung im Kreise biochemisch-molekularbiologisch arbeitender Pflanzenphysiologen einbringen sollte. Der britische Biologe verglich die Wurzelspitze von Keimpflanzen mit dem Gehirn eines niederen Tieres. Diese
Wurzelspitzen-Hirn-Theorie
lautet im Original wie folgt:
»It is hardly an exaggeration to say that the tip … acts like the brain of one of the lower animals: the brain being seated within the anterior end of the body, receiving impressions from the sense-organs, and directing the several movements« (»es ist kaum eine Übertreibung, wenn man sagt, dass die Spitze der Keimwurzel die Funktion des Gehirns bei einem niederen Tier erfüllt; dieses Hirn [des Keimlings] sitzt im untersten Ende des Körpers, empfängt Eindrücke von den Sinnesorganen und bestimmt die zahlreichen Bewegungen [der Wurzel]«).
Abb. 4.7: Charles Darwin als Experimentalphysiologe (A, B) und Blütenbiologe (C, D). Die Wurzelspitzen-Hirn-Theorie basiert u. a. auf dem Befund, dass nur die intakte, mit Haube (Calyptra) versehene Keimwurzel (Radicula) eine positive gravitropische Reaktion zeigt (Abwärtskrümmung). Ein Maiskeimling (
Zea
mays
) in Horizontal-Lage, dem Schwerereiz (Vektor g) ausgesetzt, zeigt typische Krümmungs-Reaktionen (A). Nach Abschneiden der Calyptra (decapitiert) bleibt die Abwärtskrümmung aus (B). Eine mit außergewöhnlich langem Nektarsporn versehene, auf Madagaskar vorkommende Orchidee (
Angraecum
sesquipedale
) (C) wird von einem Schwärmer mit extrem ausgebildetem Saugrüssel bestäubt (
Xanthopan morgani praedicta
) (D).
Auf welchen experimentellen Befunden basiert diese Darwinsche Theorie? Die beiden Down-House-Forscher hatten im ersten Versuchsansatz Keimpflanzen in Horizontal-Lage gebracht (Abb. 4.7 A) und den positiven Gravitropismus der Keimwurzel (Radicula) studiert. Bereits wenige Minuten nach Einsetzen des Schwere-Reizes beginnt die rasch wachsende Wurzel, sich nach unten in Richtung Erdmittelpunkt zu krümmen. Derartige Experimente gehören heute zum Standard einer modernen Biologen-Ausbildung |120| . Darwin (Kutschera 1998) ging allerdings bereits 1880 einen Schritt weiter: Um zu überprüfen, ob die Wurzelspitze (Calyptra) eine spezielle Rolle bei der Wahrnehmung des Schwere-Reizes einnimmt, entfernte er mit einem scharfen Mikro-Messer die Spitze. Das Ergebnis dieses Darwinschen Decapitations-Experiments ist in Abb. 4.7 B dargestellt. Ohne Wurzelhaube erfolgt keine Abwärtskrümmung. Offensichtlich nimmt die Keimwurzel über die Spitze den Schwere-Reiz wahr. Diese Darwinsche Schlussfolgerung wurde von Sohn Francis und anderen Botanikern zur »Stärke-Statoliten-Theorie der Graviperzeption« ausgebaut, die heute durch solide Fakten untermauert ist (Kutschera 1998, 2002). Darüber hinaus zeigte Darwin (1880), dass die Wurzel über die sensible Spitze auch auf Licht und mechanische Reize (Berührung, Verletzung) reagiert.
In einem Brief aus dem Jahr 1880 an den Botaniker Joseph Hooker (1817 – 1910) setzte Charles Darwin die Wurzelspitzen (tips) mit den Gehirnen (brains) seiner Versuchspflanzen gleich. Daraus folgt, dass er diese Analogiebetrachtung als ernst gemeinte Theorie in der Fachwelt verbreiten wollte (Barlow 2006).
Wie bewerten wir heute Darwins Theorie vom »Hirn« in der Wurzelspitze? Umfangreiche Untersuchungen unter Einsatz modernster Methoden haben gezeigt, dass die Wurzelspitze auf mindestens vier Reize reagieren kann, die unabhängig voneinander wahrgenommen werden: Schwerkraft (Abb. 4.7 A, B), Licht, Berührung und Luftfeuchtigkeit. Über welche Mechanismen diese Umweltreize perzipiert werden, ist bis heute nicht exakt geklärt (Barlow 2006). Darwin hatte somit recht: Die Calyptra der Keimwurzel kann in der Tat als »Gehirn« des Keimlings interpretiert werden. Mit dieser beiläufig formulierten Theorie wurde Darwin zum Urvater einer neuen Sicht von der Physiologie der Pflanzen, die seit etwa 2002 unter dem Schlagwort
Plant Intelligence
(Pflanzen-Intelligenz) in der Fachliteratur diskutiert wird (Kutschera 2007 d). Ob der Begriff »Intelligenz« in der Tat auf Pflanzen übertragbar ist, sei dahingestellt . Die Wurzelspitze des Keimlings ist jedoch »intelligent genug«, um über noch nicht im Detail bekannte Sinneswahrnehmung rasch in die feuchte, dunkle, mit Nährsalzen angereicherte Erde zu gelangen.
|121| Abschließend soll noch in Kürze auf den
Blütenbiologen
Charles Darwin eingegangen werden. Der Naturforscher hat eine originelle Buch-Trilogie zur Bestäubung
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