Tentakel-Trilogie 2: Tentakeltraum
verrückt geworden?«
Der Mann wirkte ungerührt, als nehme er seine Umgebung gar nicht bewusst wahr.
»Marechal?« Dolcan trat an Rahels Seite. Sie nickte ihm zu, selbst völlig unter dem Einfluss der Kampfdrogen, die durch ihre Blutbahnen spülten.
»Er ist tot. Zwei glatte Durchschüsse, einer durchs Herz. Wir können nichts machen.«
Wo in Dolcans Stimme Trauer und Bestürzung gelegen hatte, schien die Nachricht Wieland nur aufzuheitern. So etwas wie Erleichterung und Befriedigung lag in seinen Zügen. Hätte Rahel nicht unter dem Einfluss der Pharmaka gestanden, die ihre Emotionen unter Kontrolle hielten, sie hätte den Mann auf der Stelle umgebracht.
»Was sollte das?«, presste sie nun auch hervor. Wieland blickte sie. Er wirkte nicht im Mindesten schuldbewusst.
»Das war Li, der Schlächter. Ich habe ihn gerichtet, wie es schon vor vielen Jahren hätte geschehen sollen.«
Plötzliche Stille lag über der Lichtung. Wieland sah sich von allen Seiten angestarrt, ungläubig, fragend, wütend. Er raffte sich zusammen und fuhr fort: »Ich bin Sergent Baldur Wieland, ehemals IV. Kolonialdivision. Als der letzte Kolonialkrieg tobte, war ich Gruppenführer einer Kundschaftereinheit. Ich kenne Li aus dem Kolonialkrieg. Seine Gruppe hat damals drei Dörfer in der Nähe von Kalmurka ausgelöscht, weil dort Familien der Kolonialmiliz lebten. Sie haben meine Frau und meine beiden Töchter gnadenlos hingemetzelt.«
»Das war nicht unser Li!«, rief einer der Jungen aus.
Wieland schaute sich nicht nach ihm um, aber er antwortete. »Ich kenne deinen Li nicht, mein Junge. Aber das Gesicht dieses Mannes hat sich in meine Erinnerung eingebrannt. Nach dem Krieg kam er wie alle Rebellen in den Genuss der Amnestie und tauchte unter. Hier ist er gelandet. Hätte ich das früher gewusst, ich wäre hierher gereist und hätte ihn bereits vor langer Zeit erledigt. Ich habe ihm exakt die Chance gelassen, die er meiner Familie gegeben hat: Nämlich gar keine. Er hat den Tod verdient, mehrfach, hundertfach. Ich bin froh, sein Henker zu sein und bekenne mich zu meiner Tat.«
Erschöpft ließ er den Kopf sinken.
»Jetzt können Sie mit mir machen, was Sie wollen.«
Wieder legte sich Stille wie ein Leichentuch über das Lager.
Maschek räusperte sich.
»Marechal, ich wusste das nicht, sonst …«
Tooma hob die Hand.
»Es ist gut, Sergent. Sie trifft keine Schuld. Ich erwarte nicht, dass Sie über alles Bescheid wissen, was in der Vergangenheit passiert ist. Denn das trifft mich genauso. Wenn stimmt, was dieser Mann hier gesagt hat, dann wusste ich auch nichts davon, denn Li hat nie davon erzählt. Ich weiß auch nicht, was ich mit ihm getan hätte, wenn er mir davon berichtet hätte.«
Maschek nickte und schwieg.
»Was soll jetzt mit ihm geschehen, Marechal?«, stellte Dolcan die entscheidende Frage.
Rahel erkannte, dass sie nicht darum kam, ein Urteil zu fällen. Sie wusste, dass nur durch eine schnelle Entscheidung zu verhindern war, dass die Flüchtlinge zur Lynchjustiz griffen. Sie kannten ihren Li, der ihnen mit Rat und Tat zur Seite gestanden hatte, der den Kindern und Jugendlichen ein väterlicher Freund gewesen war. Sie würden nicht einmal ansatzweise in Erwägung ziehen, dass Wieland vielleicht Recht gehabt hatte.
Rahel aber, die wusste, was Kriege aus Menschen machen konnte, vermochte die Rechtfertigung des alten Milizionärs nicht einfach so fortzuwischen. In Wielands Gesicht stand ergebener Trotz und die Überzeugung, das Richtige getan zu haben. Der Sergent war kein Krimineller an sich, er war niemand, der aus Spaß tötete und er wirkte alles andere als geistig gestört oder unberechenbar. Er hatte schlicht einen Entschluss, den er vor vielen Jahren gefasst hatte, bei der ersten sich bietenden Gelegenheit in die Tat umgesetzt und erwartete dafür weder Verständnis noch Sympathie. Würde Rahel ihn jetzt zum Tode verurteilen, der Mann würde das Urteil klaglos akzeptieren und sich hinrichten lassen.
So sehr Tooma ihn auch dafür hasste, dass er sie ihrer rechten Hand, ihrer Stütze in den eigenen, dunklen Stunden beraubt hatte, so wenig war sie in der Lage, dem starken inneren Impuls zu folgen, und diesen Mann in den Tod zu schicken. Ihr Gerechtigkeitsempfinden gebot ihr, ihm eine Chance zu geben, gleichzeitig aber eine Strafe auszusprechen, die hinreichend scharf war und ihre Autorität bei den Flüchtlingen nicht in Frage stellen würde.
Sie kam zu einem Entschluss.
»Nehmt ihm die Fesseln
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