Terror: Thriller (German Edition)
und alles, was im Haus des Marokkaners gesprochen wurde, aufzeichnen. Es war die einzige Möglichkeit, an die Beweise zu kommen, die sie benötigten, um dem Marokkaner zu helfen. Ohne Beweise würde ihnen diese Geschichte niemand glauben. Als die Wanzen angebracht waren, fragte er den Marokkaner noch einmal, ob er sicher sei, ob er sich das gut überlegt habe. Der Marokkaner sah ihn an. Seine Augen waren leer. Er nickte nur. Er sagte nichts.
Hoffentlich tun wir das Richtige, dachte Marc, als er die Tür mit der verblichenen 1 hinter sich zuzog und auf die regennasse Straße trat. Hoffentlich.
Lenzari, Freitag, 4. Juni 2010, 19:23 Uhr
Plötzlich zog Anna ihre Hand zurück. Ohne Kommentar. Nachdem sie etwa zwanzig Minuten Hand in Hand nebeneinander hergegangen waren. Carla warf ihr einen prüfenden Blick zu, aber Anna wirkte abwesend. Sie steckte ihre Hand in die Hosentasche und stapfte schweigend weiter. Noch waren sie auf einer geteerten Straße, die zwar steil war, aber doch eine richtige Straße. Anna hatte ihr erzählt, dass die Straße bald in einen Feldweg und schließlich in einen Trampelpfad übergehen würde. Wie sollten sie sich im Wald zurechtfinden, wenn der Nebel noch dichter wurde? Wenn es vielleicht sogar dunkel wurde? Eines nach dem anderen, wies sich Carla zurecht, versuch nicht, Probleme zu lösen, die noch gar nicht da sind. Sie kamen an einem einsam gelegenen Haus vorbei. Kein Licht war zu sehen, es war nur ein weiterer Schatten im Nebel. Dahinter ging die Teerstraße in eine Schotterpiste über. Vom Berghang über ihnen, irgendwo aus dem Nebel, drang das Geräusch einer Motorsäge an ihr Ohr. Immer mehr dunkle Schatten säumten die Straße. Bäume. Der Wald wurde dichter. Ihr Handy klingelte. Es war Luca. »Ich muss wissen, was bei euch los ist«, sagte er. »Ich dreh sonst durch vor Sorge.«
Carla musste lächeln. Süß. Sie versuchte, ihm so kurz und präzise wie möglich zu schildern, wie die Lage war. Darauf herrschte Schweigen am anderen Ende.
»Hast du mich verstanden?«, hakte Carla nach und war selber erschrocken über den aggressiven Ton ihrer Stimme. Sie kochte innerlich und wusste nicht warum.
»Meinst du nicht …«, er zögerte, »und wenn das alles … ein Missverständnis ist?«
Jetzt wusste sie, woher die Wut kam. Nackt hatte sie vor dem Schreibtisch gestanden, und halb besinnungslos vor Angst hatte sie alles getan, was der Mann mit den grauen Augen von ihr verlangte. Sie hatte die Erklärung unterschrieben: Sie war gut behandelt worden in Bolzaneto, sie wollte keinen Anwalt und auch keine Angehörigen kontaktieren. Man hatte sie ins Krankenhaus gebracht und festgestellt, dass zwei Rippen gebrochen waren. Sie war eine Nacht im Krankenhaus geblieben, dann hatte man sie gehen lassen. Sie konnte nicht sagen, wie sie zum Bahnhof gekommen war. Sie hatte sich in den Zug nach Padua gesetzt. Nach Hause, sie wollte nur noch nach Hause.
Es dauerte eine ganze Weile, bis sie die grauenvollen Erlebnisse in ihrem Kopf so weit geordnet hatte, dass sie darüber sprechen konnte. Sie erzählte ihren Eltern und ihren engsten Freunden, was ihr während des G8-Gipfels in Genua widerfahren war. Man hörte ihr zu, man sah sie irritiert an, aber sie wusste, dass man ihr nicht glaubte. Sie konnte es nicht fassen: Ihre Eltern, ihre Freunde glaubten ihr nicht! Sie beteuerten zwar das Gegenteil, aber Carla wusste, dass sie logen. Sie sah es ihnen an. Irgendwann erzählte sie nichts mehr. Als in den Medien nach und nach Berichte erschienen, die alle ihre Erzählungen bestätigten, änderte das nichts. Man schien das zur Kenntnis zu nehmen wie die Fußballergebnisse des letzten Spieltags. Keine Empörung. Eher ein genervtes Abwinken. Als wolle man mit so etwas nicht belästigt werden. Das war die prägende Erfahrung nach dem Horror von Genua: Sie hatte das Gefühl, die anderen damit zu belästigen, dass ihr etwas Grauenhaftes passiert war. Ihr Grundvertrauen in die Demokratie und ins Leben war an diesem Wochenende in Genua zerstört worden, aber wenn sie ihren Freunden davon berichtete, hatte sie das Gefühl, bestenfalls bemitleidet zu werden. Sie galt als traumatisiert, als nicht ganz ernst zu nehmen. Das machte sie wahnsinnig.
»Das ist kein Missverständnis!«, brüllte sie ins Telefon, »die sind hinter uns her!« Sie zitterte vor Wut. Lucas beschwichtigende Worte drangen nicht bis zu ihr. Ein Schwarm Vögel flatterte auf, wahrscheinlich aufgeschreckt durch ihre laute Stimme. Sie
Weitere Kostenlose Bücher