Terror: Thriller (German Edition)
die Scheibenwischer kamen kaum noch hinterher. Im letzten Augenblick entdeckte Marc das grüne Autobahnschild: GENOVA . Er setzte den Blinker. Die Straße führte in einem weiten Bogen hinauf zur A 10, die Genua mit Ventimiglia verband. Über dem Meer standen Wolken, die aussahen wie geballte Fäuste.
Sie kamen aus dem Tal der Hexen und fuhren zurück nach Lenzari. Conny und Anna hatten die Bottega di Angela-Maria in Triora nahezu leergekauft, den Laden der selbsternannten Hexe Angela-Maria, einer sympathischen und geschäftstüchtigen Mittfünfzigerin. Das Auto war vollgestopft mit Hexenkräutern und Tinkturen, die nun eine Geruchsallianz eingingen, die nicht bekömmlich war. Marc war übel. Er ließ trotz der Geschwindigkeit die Fensterscheibe ein Stück herunter. Der Fahrtwind tat gut. Gut auch, dass sie noch zwei Flaschen »Latte di Lumaca« eingekauft hatten. Die Schneckenmilch, ein Likör auf Grappabasis, der Angela-Maria überregionalen Ruhm eingebracht hatte, half angeblich gegen jede Art von Unwohlsein.
Viel schlimmer als das körperliche Unwohlsein aber war etwas anderes. Und dagegen, das wusste Marc, würde keine Schneckenmilch helfen: Es waren seine Gedanken, die ihm keine Ruhe mehr ließen. Sie kreisten nur noch um den Marokkaner und den Mann mit dem Schnauzbart.
»Kann Angela-Maria wirklich hexen?«, wollte Anna wissen. »Vielleicht«, sagte Conny und rieb mit der Hand über die Scheibe, als könne sie die Regentropfen am Fenster von innen wegwischen.
Er war Connys Fragen ausgewichen. Sie hatte ein paarmal angesetzt und nach dem Oktoberfest-Attentat gefragt, aber er hatte sie mit vagen Aussagen abgespeist. Irgendwann hatte Conny unwillig den Kopf geschüttelt und den Raum verlassen. Sie hatten seither nicht mehr über den Marokkaner gesprochen. Dafür hatte er in den folgenden Tagen mehrmals mit Klaus und Hans Kersting telefoniert. Sie hatten hin und her überlegt, sogar kurz erwogen, doch die Polizei einzuschalten, diesen Gedanken dann aber wieder verworfen. Sie mussten erst noch mehr wissen, durften den Marokkaner auf keinen Fall in Gefahr bringen. Der Gedanke, jemanden durch einen Anruf bei der Polizei zu gefährden, schien absurd, aber er war nach den aktuellen Erkenntnissen nicht ganz auszuschließen. Das war beängstigend. Alle waren gleichermaßen ratlos. Dann hatte Marc ihnen seinen Plan erläutert, und sie hatten zögernd zugestimmt. Nicht weil der Plan so brillant war, vermutete Marc, sondern weil ihnen nichts Besseres einfiel.
In einem Tunnel kurz vor Imperia überholte sie ein Ferrari mit monegassischem Nummernschild. Das Röhren des Motors hallte von den Tunnelwänden wider.
»Die haben alle Hexen umgebracht?« Anna sah Conny fassungslos an.
»Die waren ja nicht wirklich Hexen.« Mit großer Geduld versuchte Conny ihrer Tochter zu vermitteln, was es mit der Hexenverfolgung und der Inquisition auf sich hatte. Es war immer wieder sehr dünnes Eis, auf das man sich mit solchen Gesprächen begab.
»Aber wenn die keine Hexen waren, warum hat man sie dann umgebracht?«
Marc und Conny tauschten einen Blick, Conny schnitt eine Grimasse und wischte sich mit der Hand über die Stirn, langsam kam sie ins Schwitzen.
»Weißt du«, bemühte sich Conny weiter, »es gibt immer wieder Menschen, denen es nicht gefällt, was andere Menschen machen …«
»Was denn zum Beispiel?«
»Wie sie leben, was sie denken … und dann sagen sie eben, die machen böse Dinge, das sind böse Hexen, die müssen wir einsperren.«
»Obwohl sie gar nicht böse sind?«
»Ja.«
»Gemein.«
»Ja.«
Um kurz vor sieben erreichten sie Lenzari. Der Regen hatte nachgelassen, aber auch hier musste es bis vor Kurzem noch gegossen haben, denn vor ihrer Haustür rauschte ein Sturzbach bergab. Marc schloss auf. Den aufgeweichten Zettel auf dem Dielenboden entdeckte er erst, als er sich bereits die Schuhe ausgezogen hatte. Draußen patschten Conny und Anna kichernd durch das Wasser. Marc hob den Zettel auf. Die mit blauem Kugelschreiber geschriebenen Buchstaben waren zerlaufen, trotzdem gelang es Marc, den in ordentlicher Handschrift auf Italienisch verfassten Satz zu entziffern: »Wir haben Post für Sie angenommen. Grüße Massimo.«
Endlich, das musste die Sendung sein, die er seit Tagen erwartete. Er zog sich sofort die durchnässten Schuhe wieder an und trat nach draußen.
»Ich fahr noch mal schnell hoch zu Massimo und Sandra«, rief er Conny zu und wedelte erklärend mit dem aufgeweichten Zettel. »Sie haben
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